Antibiotikaresistenzen im Nahen Osten

27 septembre 2019, Gaza, Palestine

6 Min.

Die Entdeckung von Antibiotika zur Bekämpfung bakterieller Infektionen war bahnbrechend. Doch Bakterien passen sich an neue Umgebungen an. Und mit dem weit verbreiteten Einsatz von Antibiotika ging auch ein Anstieg an Resistenzen einher. An Orten, wo Krieg oder ein Konflikt herrscht – wie vielerorts im Nahen Osten – ist das Problem besonders komplex.

Bakterien sind überall. Die meisten sind harmlos, einige nützlich und manche können wirklich gefährlich sein. Die Entdeckung von Antibiotika zur Bekämpfung bakterieller Infektionen glich einer Revolution in der Medizin. Bis dahin starben viele Menschen an den Folgen vermeintlich leichter Krankheiten oder kleinerer Wunden. Doch Bakterien passen sich, wie alle Lebewesen, an neue Umgebungen an. Und mit dem weit verbreiteten Einsatz von Antibiotika in den letzten Jahrzehnten ging ein deutlicher Anstieg an Resistenzen einher. Dort, wo gewalttätige Konflikte herrschen – wie vielerorts im Nahen Osten – ist das Problem besonders komplex.

Eine Kriegswunde hat ein enormes Potenzial für bakterielle Infektionen.

Dr. Jorgen Stassijns, MSF-Arzt

«Eine Kugel oder ein Granatsplitter reisst die Haut auseinander und das Fleisch auf, so dass Bakterien eindringen können. Das Risiko einer Infektion ist enorm», fährt Dr. Jorgen Stassijns fort. Er koordiniert die Anstrengungen von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF), um das Problem der Antibiotikaresistenzen in den Griff zu bekommen.

Infektion wegen Antibiotikamissbrauchs

Ein Beispiel für die potentiell schweren Folgen einer solchen Infektion ist Waleed. Er ist Patient in unserem Spital für rekonstruktive Chirurgie in Amman. Im Jahr 2016 ging er in der jemenitischen Stadt Ibb die Strasse entlang, als von einem Flugzeug aus das Gebäude neben ihm beschossen wurde. Eine Mauer stürzte über ihm ein und verletzte ihn schwer an Kiefer und Bein. Bis heute hat sich Waleed nicht vollständig erholt. «Ich wurde in Ibb behandelt, erhielt aber eine schlechte medizinische Versorgung», sagt er. «Dann zog ich in die Hauptstadt Sana'a zur weiteren Behandlung. Ich hatte eine Reihe von Operationen, aber auch hier war die medizinische Versorgung schlecht.»

Schliesslich wurde Waleed in unser Spital in Amman eingeliefert, wo Ärzt*innen entdeckten, dass er eine schwere Infektion in seinen Knochen hatte, verursacht durch Bakterien. Gegen die verwendeten Antibiotika waren sie resistent geworden. «Die Ärzte sagten mir, dass ich die Infektion wegen des Missbrauchs von Antibiotika bekommen habe. Viele Ärzte hatten mir zuvor eine Menge Antibiotika gegeben und das hat die antibiotikaresistenten Bakterien verursacht.»

Was tun, wenn ein Antibiotikum nicht mehr wirkt?

Glücklicherweise gibt es verschiedene Arten von Antibiotika und die Resistenz gegen die eine Art bedeutet nicht unbedingt, dass ein anderes Antibiotikum nicht funktioniert. Ein Labor kann die Bakterien, die eine Infektion verursachen, genau bestimmen, ebenso wie die Antibiotika, gegen die es resistent ist. Das Spital in Amman ist eines der wenigen in der Region mit einem entsprechenden Labor. Zurzeit arbeiten wir daher daran, an weiteren Orten Labore einzurichten und mit externen Laboratorien zusammenzuarbeiten. 

Darüber hinaus haben wir damit begonnen, unser medizinisches Personal in der Region zu schulen. Sogenannte Antibiotika-Stewardship-Programme, bei denen es um den verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika geht, sind der Schlüssel zur Verbesserung des Einsatzes von Antibiotika in Spitälern.

Dr. Marwa Qasim Mohammed gehört zu einer Gruppe von Ärzt*innen, die in Antibiotika-Stewardship ausgebildet wurden, nachdem sie zu unserem Team im Spital in Aden, Jemen, dazugestossen sind.

«Vor der Arbeit mit Ärzte ohne Grenzen gingen wir nach dem Prinzip vor, nach einer Operation grundsätzlich dieses oder jene Antibiotikum für ein bis zwei Wochen zu verschreiben».

Dr. Marwa Qasim Mohammed, MSF-Ärztin

Aber das habe sich geändert, so die Ärztin: «Jetzt haben wir gelernt, einem Protokoll zu folgen, das die Art des Antibiotikums definiert, das bei verschiedenen Infektionen eingesetzt werden sollte. Und wir haben spezielle Schulungen über resistente Bakterien erhalten.»

Ein weiterer wichtiger Baustein, um die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen zu verhindern, sind Massnahmen zur Infektionsprävention und -kontrolle (IPC) in Spitälern. «Das Hauptprinzip von IPC ist Hygiene», erklärt Fatima Salim Younis, verantwortlich für IPC in unserer Einrichtung für postoperative Versorgung im irakischen Mossul. Aber die Einführung geeigneter Massnahmen ist einfacher gesagt als getan – vor allem an einem von Gewalt betroffenen Ort.

In überfüllten Gesundheitseinrichtungen ist es fast unmöglich, die richtigen Massnahmen umzusetzen. Es mangelt an medizinischem Material, und das Wissen des Personals zu Antibiotikaresistenzen reicht häufig nicht aus.

Fatima Salim Younis, MSF-Hygienespezialistin

Eine ebenfalls entscheidende Rolle in unseren Projekten nehmen Gesundheitsberater*innen ein. Sie helfen den Betroffenen, die Behandlungsmassnahmen zu verstehen und vor allem zu akzeptieren. Denn einige Massnahmen können für die Patient*innen ziemlich drastisch erscheinen, wenn sie zum Beispiel isoliert werden müssen. «Wir erklären ihnen dann, dass sie immer noch ihr normales Leben führen können und die Menschen sie besuchen können – es sind nur einige Vorsichtsmassnahmen zu treffen», erklärt Amal, die in einem unserer Spitäler in Gaza als Gesundheitsberaterin arbeitet.

8. Oktober 2019, Mosul, Irak

Ein Grundpfeiler der Infektionsprävention ist es, die Ausbreitungswege zu kontrollieren. Ein MSF-Mitarbeiter setzt eine Schutzmaske auf. 8. Oktober 2019, Mosul, Irak

© Mario Fawaz/MSF

Globales Problem

Waleed hat eine grosse Etappe seiner Genesung bereits hinter sich. Seit mehr als drei Jahren laboriert er an der Knocheninfektion, und es hat Monate der fachärztlichen Betreuung in unserem Spital gedauert, um diesen Status der Genesung zu erreichen. Seine Behandlung ist ein Erfolg, aber die Herausforderungen bei der Bekämpfung der Antibiotikaresistenz reichen weit über die Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen hinaus. Es ist ein globales Problem. So werden beispielsweise in vielen Ländern, insbesondere im Nahen Osten, Antibiotika rezeptfrei verkauft. 

«Wir können nur versuchen, einen kleinen Teil des Problems der Antibiotikaresistenzen zu lösen», sagt Koordinator Stassijns: «Wir haben sehr wenig Einfluss auf private Gesundheitsdienstleister, die in vielen Ländern den grössten Teil des Gesundheitssystems ausmachen. Und die überwiegende Mehrheit der Antibiotika wird nicht einmal in der Medizin eingesetzt, sondern in der Tierzucht und Landwirtschaft. Auf diese Gebiete haben wir keinerlei Einfluss. Was wir in unseren Projekten umzusetzen versuchen, kann in unseren eigenen Einrichtungen durchaus viel bewirken», so Stassijns. «Aber es braucht noch viel mehr, um das Problem der Antibiotikaresistenzen als Ganzes anzugehen.»