Das Sterben auf dem Mittelmeer muss ein Ende haben

Lesbos, Griechenland. 12. Mai 2018.

Libyen4 Min.

Am 25. Juli ereignete sich auf dem Mittelmeer erneut ein tragisches Schiffsunglück. Schätzungen zufolge ertranken 150 Menschen auf der Flucht aus Libyen. Damit sind allein dieses Jahr mindestens 576 Menschen im Mittelmeer gestorben. Der Tod dieser Menschen wäre vermeidbar gewesen. Die Tragödie zeigt einmal mehr, dass die vorhandenen Seenotrettungsaktivitäten absolut ungenügend sind und dass die Menschen, die aus Libyen flüchten, ein grauenhaftes Schicksal erwartet.

Ärzte ohne Grenzen hat hautnah erlebt, welchen unfassbaren menschlichen Preis die Politik der Rückschaffung und der Internierung von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen hat. In den Internierungslagern in Libyen werden wir Zeuge von unfassbarem menschlichem Leid, das industriell verwaltet wird. Für die Überlebenden des 25. Juli geht der Teufelskreis von willkürlicher Internierung, Gewalt und Ausbeutung weiter, ohne Hoffnung auf ein Ende.

So werden beispielsweise in Tajoura noch immer Menschen festgehalten. Das Internierungslager wurde vor einem Monat von einem Luftangriff getroffen, 53 Menschen wurden getötet, 70 weitere verletzt. Ein Arzt von Ärzte ohne Grenzen wurde Zeuge dieser Katastrophe. Er berichtete aus dem Lager: «Überall lagen Leichen, in den Trümmern sah man die Kadaverteile. Irgendwann konnte ich nicht mehr weiter. Um meinen Weg fortzusetzen, hätte ich über herumliegende Leichen steigen müssen. Ich kannte viele der verstorbenen Menschen, ihre Namen und ihre Geschichten.»

Der vermeidbare Tod

Wie das Sterben im Mittelmeer, waren auch die Toten in Tajoura vorhersehbar und vermeidbar gewesen. Solange die Aufrufe, die Menschen aus den Internierungslagern zu evakuieren, ignoriert werden, wird auch hier das Sterben weitergehen. Es gibt Nichts, das die Internierten vor weiteren Luftangriffen und der Gewalt der Milizen schützen könnte. Die Menschen in Internierungslager zurückzubringen kommt für viele einem Todesurteil gleich.

Für die menschliche Tragödie, mir der die Internierten in Libyen konfrontiert sind, gibt es Verantwortliche. Mit dem Ende der Operation «Sophia» auf dem Mittelmeer haben die europäischen Regierungschefs die Seenotrettung faktisch aufgegeben. Die einzige «Wahl», die den Menschen auf der Flucht bleibt: In einem Internierungslager auszuharren oder bei der Flucht übers Mittelmeer den Tod zu riskieren. Es scheint, dass die europäischen Regierungen das Sterben auf dem Mittelmeer als Preis für die Eindämmung der Migrationsbewegung in Kauf nehmen. Es gibt jedoch nichts, was die willkürliche Gefangenschaft in Libyen oder das Sterben auf dem Mittelmeer, unmittelbar vor den Toren Europas, rechtfertigen würde.

In den letzten Wochen haben verschiedene europäische Regierungschefs eine systematische und nachhaltige Seenotrettung sowie die sofortige Beendigung der willkürlichen Inhaftierungen in Libyen gefordert. Angesichts der Situation auf dem Mittelmeer und in Libyen müssen diesen Worten nun schnellstmöglich Taten folgen. Den Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen, die in Libyen festsitzen, muss es erlaubt sein, das Land zu verlassen; die erzwungenen Rückführungen müssen gestoppt werden. Die europäischen Regierungschefs müssen die vollständige Evakuation der willkürlich Inhaftierten veranlassen. Kürzlich wurden einige Personen evakuiert. Aber für jede evakuierte Person hat die libysche Küstenwache drei Geflüchtete mit Gewalt zurückgeschafft – und eben diese libysche Küstenwache wird von der EU mit Booten beliefert. Um glaubhaft zu bleiben, müssen die politischen Entscheidungsträger diesen Widerspruch auflösen.

Europa muss diesem Drama ein Ende setzen

Am 25. Juli kümmerten sich Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen um die 135 Überlebenden des Schiffsunglücks. Doch der Tod von über 150 Menschen lastete schwer. Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée haben kürzlich die Seenotrettung im Mittelmeer wiederaufgenommen. Erneut wird uns vorgeworfen, ein «Pullfaktor» für Flüchtlinge zu sein. Die Fakten zeigen, dass dies nicht stimmt. Die Menschen sitzen in Libyen fest. Sie sind Gewalt ausgesetzt und ihre grundlegenden Menschenrechte werden verletzt: Sie fliehen, um ihr Leben zu retten. Dies ist ein menschlicher Grundinstinkt. Die Menschen flüchten unabhängig davon, ob auf dem Mittelmeer zivile Seenotrettungsschiffe unterwegs sind.

Die menschliche Tragödie, deren Opfer die Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in Libyen und auf dem Mittelmeer sind, wäre vermeidbar. Es müssen konkrete Schritte unternommen werden, die die Wiederaufnahme umfassender Such- und Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer beinhalten sowie Anlandungen in sicheren Häfen sicherstellen. Ausserdem müssen die Tausenden von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen in den Internierungslagern in Libyen unverzüglich ausser Landes gebracht werden.

NGOs und humanitäre Organisationen können den Menschen, die in Libyen unter unmenschlichen Bedingungen festsitzen und jenen, die die Flucht über das Mittelmeer wagen, nur sehr beschränkt helfen, da sie die Situation insgesamt nicht ändern können.

Damit sich etwas ändert, braucht es die europäischen Regierungschefs: Es liegt in ihrer Hand, diesen Teufelskreis von Internierung, Leid und Sterben zu beenden. Tausende von Menschen sind von der Haltung und den Handlungen der politischen Entscheidungsträger abhängig. Die Zeit drängt.