Libyen: Medizinische und psychologische Unterstützung für die verwüstete Stadt Darna

Luftaufnahme der Verwüstung in Darna nach den Überschwemmungen durch den Sturm «Daniel». Libyen, 17. September 2023.

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Zwei Wochen nach dem Sturm «Daniel», der die Hafenstadt Darna überschwemmt und innerhalb weniger Stunden Tausende Menschen in den Tod gerissen hat, werden die Such- und Rettungsaktionen allmählich beendet. Nun beginnt der Wiederaufbau. Auch der Bedarf an psychologischer Hilfe ist immens. Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) hat medizinische Aktivitäten aufgenommen und bietet insbesondere psychologische Unterstützung für Menschen, die in den Fluten alles verloren haben, sowie für medizinisches Personal und Freiwillige, die bei den Rettungsaktionen mithalfen.

Michel Olivier Lacharité, unser Leiter des Notfalleinsatzes in Darna, Libyen, schildert die Lage.

Wie ist die allgemeine Lage in Darna zwei Wochen nach der Flut?

Die Katastrophe ist bei der Bevölkerung noch immer omnipräsent. Viele haben ihre Häuser oder Familienangehörige verloren, häufig beides. Man sieht deutlich, wie die ganze Stadt in Trauer ist und leidet. Zwei Wochen nach der Flut steht die Suche von Toten unter den Trümmern nicht mehr im Vordergrund; im Meer hingegen werden noch immer Leichen geborgen. Laut Angaben der Such- und Rettungsteams wird die Strömung auch in den kommenden Wochen noch Tote anschwemmen.

Das Ausmass der Zerstörung in Darna war unfassbar. Man spricht vor allem von den Überschwemmungen, aber am verheerendsten war letztlich der Bruch der beiden Staudämme, der die Menschen im Schlaf überraschte und innerhalb weniger Stunden alles und alle mitriss. Die Fluten waren so gewaltig, dass es relativ wenige Verletzte gab, aber dafür leider sehr viele Todesopfer.

Michel Olivier Lacharité, Leiter unseres Notfalleinsatzes in Darna

Die Behörden arbeiten nun an der Wiederherstellung einer Brücke zwischen dem östlichen und westlichen Teil der Stadt, da die Stadt buchstäblich zweigeteilt wurde. Betreffend Gesundheit ist das Hauptziel, dass Menschen, die traumatisiert sind oder alles verloren haben, psychologische Hilfe erhalten.

Wie steht es um das Gesundheitswesen in Darna? Unterstützt Ärzte ohne Grenzen bereits medizinische Einrichtungen?

Die Spitalversorgung ist nicht überlastet. Es gab nur eine leichte Zunahme bei der Zahl der Patient:innen, die auf die Katastrophe zurückzuführen war. Die Spitäler haben die Situation im Griff. Zusätzlich waren auch vom Ausland errichtete Feldspitäler wenige Tage nach dem Sturm im Einsatz.
Einrichtungen der primären Gesundheitsversorgung traf es besonders hart: Einige wurden von den Fluten überschwemmt, und zahlreiche Mitarbeitende sind entweder gestorben oder beklagen den Verlust von Familienangehörigen oder Kolleg:innen. Einige Einrichtungen werden von Freiwilligen unterstützt, die in grosser Zahl aus ganz Libyen hierherkamen.

Nach zwei Wochen stellen wir fest, dass viele Gesundheitsmitarbeitende noch immer als vermisst gelten oder in Trauer sind; Freiwillige, die schon in den ersten Tagen ankamen, gehen allmählich wieder nachhause.

Unsere Teams unterstützen seit dem 20. September zwei Einrichtungen der Primärversorgung. Bis jetzt hat unser ärztliches Personal 537 Sprechstunden in Kliniken in Embokh und Salem Sassi sowie in einer Notunterkunft in einer Schule abgehalten. Es geht vorwiegend um die Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck bei Erwachsenen und Atemwegsinfektionen und Durchfall bei Kindern. Viele Patient:innen stehen noch immer unter Schock und weisen Anzeichen von Traumata auf. Einige Kinder wollen kein Wasser trinken, aus Angst, zu ertrinken. Manche Menschen berichten von Flashbacks und der Tatsache, dass sie zwischen halb drei und fünf Uhr morgens nicht schlafen können – genau zu dieser Zeit wurde die Stadt am 10. September von der Flut überrascht.
 

Massive Zerstörungen in der Stadt Derna. Libyen, 17. September 2023.

Massive Zerstörungen in der Stadt Derna. Libyen, 17. September 2023.

© Ricardo Garcia Vilanova

Welche Unterstützung kann Ärzte ohne Grenzen diesen Menschen bieten?

Unsere Psycholog:innen kümmern sich im Moment vorwiegend um Menschen, die alles verloren haben und nun in temporären Unterkünften leben, und um Personal und Freiwillige, die in Gesundheitseinrichtungen tätig sind. Letztere haben zum einen oftmals Angehörige, Freunde oder Kolleg:innen verloren; zum anderen arbeiten sie direkt an der Front, wo sie Überlebende betreuen oder manchmal sogar bei der Bergung von Leichen mithelfen, was für Freiwillige eine traumatische Erfahrung sein kann.

Deshalb konzentrieren wir uns im Moment auf psychologische Hilfstätigkeiten. Wir bieten Einzel- und Gruppenkonsultationen in Notunterkünften und in den beiden Kliniken an, die wir unterstützen. Wir wollen unsere Aktivitäten weiter ausbauen, damit wir allen, die psychologische Hilfe benötigen, diese bieten können.

Gibt es für unsere Teams besondere Herausforderungen?

Unser Personal war zwar bereits drei Tage nach der Katastrophe vor Ort, da wir Mitarbeitende aus regulären Projekten im Westen Libyens entsenden konnten. Doch jetzt bremst der langwierige Prozess zur Visumverteilung für internationale Mitarbeitende die Umsetzung unserer Hilfe. Dies könnte unseren geplanten Ausbau einschränken. Die Zusammenarbeit mit Behörden und lokal rekrutierten Mitarbeitenden verläuft jedoch sehr gut. Wir werden in den kommenden Tagen sehen, wie sich die Gesundheitseinrichtungen organisieren und wo und in welchem Umfang unsere Hilfe einen Mehrwert darstellt.