Immer heftigere Kämpfe in Darfur zwingen noch mehr Menschen zur Flucht in den Tschad

Erster aufgenommener Patient, seitdem die Kämpfe in El Geneina zugenommen haben und mehr Menschen aus dem Sudan nach Adré im Tschad flüchten. 4. November 2023.

Tschad6 Min.

In El Geneina, im sudanesischen West-Darfur, wird immer intensiver gekämpft. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF), die auf der anderen Seite der Grenze im Osten des Tschad tätig sind, haben bereits Auswirkungen festgestellt: Die Zahl der Neuankömmlinge in der Region ist sofort stark angestiegen. Allein am vergangenen Wochenende hat die Organisation 36 Verletzte versorgt. Bei den Geflüchteten aus dem Sudan handelt es sich vorwiegend um Frauen und Kinder. Sie berichten von massiver Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung.

«In den ersten drei Novembertagen haben wir mehr Menschen aus dem Sudan über die Grenze überqueren sehen als im gesamten Oktober: Es waren etwa 7000 Personen», sagt Stephanie Hoffmann, unsere Koordinatorin in Adré. «Wir sahen Mütter und Kinder, die den Sudan verlassen mussten, ohne irgendetwas mitzunehmen, weil ihre Häuser zerstört worden waren.»

Gleich beim Grenzübergang in Adré befindet sich ein Gesundheitsposten. Dort bieten unsere Teams den Neuankömmlingen medizinische Versorgung an. Sie impfen Kinder gegen Masern, untersuchen die Menschen auf Mangelernährung und überweisen Personen, die dringend eine fachärztliche Behandlung benötigen, in das Spital in Adré. Dort werden sie von unseren Mitarbeitenden und des tschadischen Gesundheitsministerium behandelt.

Wenige hundert Meter vom Grenzposten entfernt warten bereits zuvor geflüchtete Menschen auf die Neuankömmlinge, in der Hoffnung, Neuigkeiten von ihrer Familie zu erhalten. Oft erfahren sie dabei vom Verlust ihrer Angehörigen, die im Sudan geblieben sind. Unsere Teams bieten deshalb am Grenzposten nun auch psychologische Unterstützung an. Sie haben auch einen Wassertank bereitgestellt, damit die Menschen nach der beschwerlichen Reise Trinkwasser haben. 

«Vergangene Nacht wurde das Haus meiner Schwester bombardiert», erzählt Amne, 33, die mit ihren vier Kinder die Grenze überquert hat. «Ihr Haus stand gleich neben unserem. Wegen der Explosion fing unser Haus Feuer, und wir haben es sofort verlassen. Von meiner Schwester habe ich noch nichts gehört, ich weiss nicht, ob sie überlebt hat oder nicht.» Sie zeigt auf ein Kleid – der einzige Gegenstand, den sie mitnehmen konnte.

Ein 27-jähriger Mann kommt im Spital in Adré an. Er ist mit sechzehn weiteren Personen aus El Geneina geflohen, doch unterwegs wurde ihre Gruppe angegriffen. Er erzählt, dass die Angreifer alle anderen aus der Gruppe getötet haben und er als einziger überlebt hat, indem er sich tot stellte. Eine andere Gruppe Geflüchteter half ihm schliesslich, die Grenze zu erreichen. Er hat mehrere Schussverletzungen an Händen und Beinen.

Seit die Gewalt in El Geneina im vergangenen Juni eskaliert ist, hat ein grosser Teil der Bevölkerung die Stadt verlassen – trotz aller Gefahren und möglicher Angriffe, die sie auf der Flucht in den Tschad erwarten. Danach wurde es in der Stadt relativ ruhig, und es suchten dort sogar Vertriebene aus anderen Ortschaften Zuflucht. Doch jetzt sind die Explosionen und die Angst wieder zurück.

Alkassoum Abdourahamane, MSF Projektkoordinator in El Geneina

Am Sonntag spendete Ärzte ohne Grenzen 3,5 Kubikmeter medizinisches Material an die Notaufnahme des Spitals von El Geneina. Damit konnten bereits 120 Patient:innen behandelt werden. Daneben wurden auch drei Gesundheitszentren auf der Strecke zwischen El Geneina und Adré mit Material versorgt, insbesondere zur Behandlung von Malaria, Durchfall und Atemwegserkrankungen.

Die Berichte der Neuankömmlinge erinnern an die Schilderungen der zahlreichen Menschen, die im Juni nach Adré gekommen sind, als sich die Bevölkerungszahl verdreifachte. Damals hat das Spital vom 15. bis 17. Juni mehr als 850 Kriegsverletzte aufgenommen, eine der grössten Zahlen von Verletzten, die unsere Teams je zu versorgen hatten. Viele Patient:innen wiesen Schusswunden an Bauch, Rücken und Beinen auf und berichteten von entsetzlicher Gewalt in El Geneina und auf der Flucht in den Tschad. Dabei hätten Männer auf Menschen geschossen, die versuchten zu fliehen. Während dieser Zeit beobachteten die medizinischen Teams in El Fasher, Hauptstadt von Nord-Darfur, dass viele die Stadt verliessen, aus Angst, wegen der zunehmenden Gewalt plötzlich festzusitzen.

Geflüchtete Frauen schöpfen Wasser an den von unseren Teams eingerichteten Wasserversorgung im Camp in Adré. Damit soll verhindert werden, dass Frauen und Mädchen kilometerweit gehen müssen, um Wasser zu holen. Adré, 27. September 2023.

Geflüchtete Frauen schöpfen Wasser an den von unseren Teams eingerichteten Wasserversorgung im Camp in Adré. Damit soll verhindert werden, dass Frauen und Mädchen kilometerweit gehen müssen, um Wasser zu holen. Adré, 27. September 2023.

© MSF/Nisma Leboul

Seit Beginn des Sudan-Kriegs im April vor mehr als sechs Monaten sind Millionen von Menschen aus ihrer Heimat geflohen und liessen dabei ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage zurück. Die meisten von ihnen sind noch im Sudan; man schätzt, dass etwa 1,1 Millionen Menschen in die Nachbarländer geflohen sind. Ein Grossteil von ihnen ist nun im Tschad, einem Land, das bereits mit mehreren humanitären Krisen zu kämpfen hat.

«Trotz gemeinsamer Anstrengungen der lokalen Bevölkerung, Behörden und Hilfsorganisationen entspricht die geleistete Hilfe im Osten des Tschad nicht dem Ausmass der Krise. Auch hilfsbedürftige Menschen der Aufnahmegemeinden kriegen die Auswirkungen zu spüren», sagt Claire Nicolet, Verantwortliche der Notfalleinsätze im Tschad und Sudan. «Zahlreiche Menschen leben in behelfsmässigen Camps unter katastrophalen Zuständen. Der jüngste Anstieg der Zahl der Neuankömmlinge weist darauf hin, dass der Hilfsbedarf weiter zunimmt und der Konflikt, der diesen verursacht, noch lange nicht beendet ist. Wir rufen weiterhin dazu auf, dass die Hilfe im Tschad umgehend aufgestockt wird, damit besonders verletzliche Menschen – Geflüchtete und Tschader:innen – Unterstützung erhalten und alle Zugang zu Wasser, Nahrung, einer Unterkunft und Gesundheitsversorgung haben.»

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen im Tschad leisten medizinische Hilfe in den Camps in Adré, Ourang und Metche in der Provinz Wadai sowie in den Camps von Goz Achiye, Daguessa und Anderessa in der Grenzregion Sila.

Seit Beginn des Notfalleinsatzes im Osten des Tschad haben unsere Teams mehr als 96 000 Sprechstunden abgehalten, 8492 Patient:innen stationär versorgt, 7155 mangelernährte und 31 955 an Malaria erkrankte Menschen behandelt. Die Teams haben 16 334 chirurgische Eingriffe durchgeführt und 1043 Geburten betreut. Daneben verteilt die Organisation grundlegende Hilfsgüter und stellt bis zu 80 Prozent des Trinkwassers für die Geflüchteten bereit.