Sudan: Studie von Ärzte ohne Grenzen offenbart Ausmass der Gewalt in West-Darfur

Blick auf das Vertriebenencamp Ourang im Osten des Tschads, 7. Dezember 2023.

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Die Forschungsabteilung von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) Epicentre hat eine retrospektive Studie zur Sterblichkeit sudanesischer Geflüchteter durchgeführt. Sie dokumentiert das Ausmass der Gewalt, die im letzten Juni über die Region hereinbrach. In der Umgebung von El Geneina, der Hauptstadt von West-Darfur, kam es in den vergangenen Monaten weiter zu Gräueltaten.

Die Studie hat ergeben, dass die Sterblichkeit in allen drei Geflüchtetencamps, in denen Daten erfasst wurden, seit Beginn des Sudan-Konflikts im Sudan im April 2023 deutlich zugenommen hat. Am stärksten betroffen sind jedoch die im Camp Ourang untergebrachten Menschen, die hauptsächlich aus El Geneina stammen. Die Sterblichkeitsrate stieg ab April um das Zwanzigfache und erreichte während des Höchststands im Juni täglich 2,25 Todesfälle je 10 000 Personen. 83 Prozent der getöteten Menschen waren Männer; die Todesursache war in 82 Prozent der Fälle Gewalt, am häufigsten durch Schusswaffen. Die meisten Todesfälle ereigneten sich in El Geneina, ein Viertel während der Flucht in den Tschad. Fast jeder zwanzigste Mann zwischen 15 und 44 wurde in diesem Zeitraum als vermisst gemeldet.

«Sie sagten uns, dass dies nicht unser Land sei.»

Viele berichteten, dass arabische Milizen sie angegriffen und in El Geneina auf sie geschossen hatten, weil sie zum Volk der Masalit gehören. Sie erzählten, dass die Gewalt auch in den Dörfern und an den Checkpoints entlang der Route in den Tschad weiterging und dass Männer des Masalit-Volkes systematisch zur Zielscheibe wurden.

Claire Nicolet, unsere Notfallverantwortliche im Tschad

«Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen die Aussagen von rund 1500 verwundeten Sudanes:innen, die von unseren Teams zusammen mit der tschadischen Gesundheitsbehörde seit letztem Juni im Spital von Adré chirurgisch behandelt wurden. Zwischen dem 15. und 17. Juni nahmen wir 858 kriegsverletzte Personen auf – dies entspricht auch dem Höchstwert in unserer Sterblichkeitsstudie», so Claire Nicolet, unsere Notfallverantwortliche im Tschad.

Die Berichte der Geflüchteten, die in den letzten sechs Monaten aus West-Darfur geflohen sind, zeugen von erschreckender Gewalt. Dazu gehören Plünderungen, das Niederbrennen von Häusern, Schlägen, sexualisierte Gewalt und Massaker. In der Hauptstadt El Geneina hat die ethnisch motivierte Gewalt, die auf politische, wirtschaftliche und landschaftliche Rivalitäten zwischen den im Gebiet ansässigen Gemeinschaften zurückgeht, besonders extreme Formen angenommen. Inzwischen leben praktisch keine Angehörigen des Masalit-Volkes, das hier früher ansässig war, mehr in El Geneina.

Sie sagten uns, dass dies nicht unser Land sei. Sie stellten uns vor die Wahl: Entweder sofort in den Tschad gehen oder man würde uns töten. Sie nahmen ein paar Männer mit, und ich sah, wie sie sie mitten auf der Strasse erschossen; um die Leichen kümmerte sich niemand.

H., 26 Jahre alt, aus El Geneina nach Adré geflohen

«Auf der Route in den Tschad wurden wir an vielen Checkpoints gestoppt. Man fragte uns, zu welchem Volk wir gehörten. Sie hatten es auf die Masalit abgesehen», fügt ein anderer von unseren Teams in Adré behandelter Patient hinzu.

Einer der jüngsten Gewaltausbrüche ereignete sich im November in Ardamatta, nordöstlich von El Geneina. Berichten zufolge wurden Hunderte von Menschen getötet, als die Milizen Kontrolle über das Gebiet übernahmen, auf dem sich ein grosses Vertriebenencamp und eine Garnison der sudanesischen Streitkräfte befanden. «Im Spital in Adré wurden im November 333 Verwundete versorgt, die meisten waren Menschen aus Ardamatta mit Schussverletzungen», so Nicolet.

Die Welt darf sich nicht einfach abwenden

Der Sudan-Konflikt hat im Osten des Tschads eine schwere humanitäre Krise ausgelöst. Fast eine halbe Million Menschen haben hier Zuflucht gefunden und kommen zu den bereits hilfsbedürftigen Einheimischen und tausenden anderen Geflüchteten aus dem Sudan dazu, die schon seit zwanzig Jahren im Land sind.

Stephen Cornish, Generaldirektor MSF Schweiz, im Ourang Camp. Tschad, Dezember 2023.

«Ich war bereits in vielen Ländern humanitär tätig, doch was ich hier im Tschad angetroffen habe, ging mir durch Mark und Bein», sagt Stephen Cornish, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Schweiz, nach seinem kürzlichen Projektbesuch im Osten des Tschads. «Die grössten Leidtragenden dieser Krise sind Frauen und Kinder, viele werden auch Opfer der weit verbreiteten Gewalt. Sie berichten von unsäglichen Grausamkeiten: getötete Familienmitglieder, Frauen, die Entführungen und sexualisierte Gewalt erleiden mussten, Häuser, die in Schutt und Asche gelegt wurden. Die Welt darf sich nicht einfach abwenden.»

© MSF

Es sind immer noch beträchtliche finanzielle Mittel sowie logistische und personelle Ressourcen nötig, um die humanitäre Hilfe in Adré und den Camps in der Umgebung aufzustocken. Das gilt insbesondere für Nahrungsmittelhilfe. Unsere Teams bieten im Spital in Adré und in mehreren Kliniken und Gesundheitszentren Leistungen wie pädiatrische und Mutter-Kind-Versorgung, Ernährungshilfe, Chirurgie, Impfungen und psychologische Betreuung an. Daneben arbeiten sie an einem verbesserten Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen.

Die retrospektive Studie zur Sterblichkeit wurde im August und September 2023 von Epicentre durchgeführt, der Forschungsabteilung von Ärzte ohne Grenzen. Die Teams erhoben Daten in den Camps Toumtouma, Arkoum und Ourang, die zu diesem Zeitpunkt je 6000, 44 000 und 25 000 Personen beherbergten. Dabei wurden 3093 Haushaltsvorstände (als repräsentative Probe) zu der Anzahl und Ursache der Todesfälle in ihrem Haushalt im Jahr 2023 befragt, vor und nach Beginn des Konflikts. Auf diese Weise lässt sich die rohe Sterblichkeit ermitteln und über die beiden Zeiträume hinweg vergleichen. Dies ist einer der am häufigsten verwendeten Indikatoren zur Ermittlung der Schwere einer Krise innerhalb einer bestimmten Bevölkerung. Es gilt, dass eine Sterblichkeitsrate von mindestens einem Todesfall je zehntausend Menschen pro Tag eine Notlage darstellt, die sofortige Massnahmen erfordert.