Madagaskar: Bedrohung durch Mangelernährung, Malaria und extreme Wetterereignisse

Bruanette, Leiterin für Gesundheitsförderung

6 Min.

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) beobachten im Südosten Madagaskars alarmierende Mangelernährungsraten. Die Menschen dort sind mit einer dreifachen Krise konfrontiert: Ernährungsunsicherheit, Malaria und extreme Wetterereignisse.

Alleine in den Monaten Januar und Februar wurden in einem von uns unterstützten Behandlungszentrum mehr als 1200 Kinder unter fünf Jahren mit schwerer akuter Mangelernährung behandelt. Mehr als 75 Prozent dieser Kinder wurden zudem positiv auf Malaria getestet. Der Zyklon Freddy, der am 21. Februar 2023 auf die Insel traf, ist der letzte in einer langen Liste von Zyklonen, die die bestehenden Gesundheitsprobleme im Land noch verschlimmert haben. Freddy kostete 17 Menschen das Leben und könnte bald offiziell zum längsten tropischen Wirbelsturm der Geschichte erklärt werden.

Extreme Klimaereignisse

«Das Leben ist wirklich hart geworden», erklärt die 19-jährige Joella. Sie ist schwanger und kommt für Vorsorgeuntersuchungen in unsere Klinik in Ambodirian’i im Südosten des Landes. «So viele Dinge sind [durch die Zyklone] zu Staub zerfallen, Krankheiten haben zugenommen, das Spital wurde zerstört.»

Zudem beschreiben Joella und viele andere Patient:innen die verheerenden Auswirkungen der extremen Klimaereignisse auf den Reisanbau. In Madagaskar ist Reis das wichtigste Grundnahrungsmittel. Auch ist er für die wirtschaftliche Sicherheit der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung. Landesweit macht er 41 Prozent der privaten Haushaltseinkommen aus.

Porträt von Joella. Madagaskar, 17. Februar 2023.

Porträt von Joella, schwanger mit ihrem ersten Kind. Sie kam zu einer vorgeburtlichen Beratung in unsere Apotheke in Sahavato im südöstlichen Bezirk Nosy Varika. Madagaskar, 17. Februar 2023.

© MSF/Kathryn Dalziel

Genevia, eine andere junge Mutter, berichtet, wie die Zyklone ihre Reiskulturen komplett zerstörten: «Unsere Reiskultur wurde überschwemmt. Sie war voller Sand und der Wasserspiegel stieg jeden Tag.» Genevia kam in eine von uns unterstützte Klinik, um ihre Zwillinge wegen Mangelernährung behandeln zu lassen.

Bereits 2022 wurden 80 Prozent der Ernten im Südosten des Landes von Zyklonen zerstört. Nach vorläufigen Schätzungen der Regierung und verschiedener humanitären Organisationen sind aufgrund des Zyklons Freddy 148 000 Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

In unserem Zentrum für schwangere und stillende Frauen erzählen viele von der anstrengenden Arbeit, die der Reisanbau und die Ernte mit sich bringt – und wie schwer es fällt, zu akzeptieren, dass all diese Arbeit von einem Zyklon oder starken Regenfällen zunichte gemacht wird. «Ich fürchte, dass ich nicht mehr die notwendige Kraft habe», sagt Genevia. Sie macht sich Sorgen, dass sie aufgrund der fehlenden Nahrung die langen Arbeitsstunden auf den Reisfeldern nicht mehr leisten kann.

Die extremen Regenfälle und Winde haben nebst zerstörten Ernten auch medizinische Auswirkungen auf die Menschen. Beschädigte Strassen und Brücken erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung. Im globalen Vergleich hat Madagaskar eines der am wenigsten entwickelten Strassennetze. Viele Menschen in den Kliniken von unseren Teams mussten lange und gefährliche Reisen auf sich nehmen und auf überschwemmten Strassen vorwärtskommen. Die gefährliche Reise hält nicht wenige Menschen davon ab, medizinische Hilfe zu suchen. Wir setzen deshalb Mitarbeitende in mobilen Kliniken ein, die mit Booten, Autos und Motorrädern abgelegene Orte besuchen und die Menschen vor Ort medizinisch versorgen.

Ernährungsunsicherheit

Da verschiedene Zyklone in Folge die Ernten zerstörten, werden auch die Nahrungsvorräte knapp. Am Tag bevor Freddy auf die Insel traf, beobachteten unsere Teams, wie die Menschen in ländlichen Gebieten verzweifelt in den Wäldern nach Nahrung für ihre Familien suchten. Dann brachten sie sich vor dem Zyklon in Sicherheit.

Im Distrikt Ikongo bringen immer mehr Eltern ihre mangelernährten Kinder in die von uns unterstützte Klinik in Ifaneria.

«Die Menschen wissen, dass Ärzte ohne Grenzen sich um Kinder unter fünf Jahren mit Mangelernährung kümmert. Sie sind sehr froh, dass sie ihre Kinder hierherbringen können», erklärt Olga, Pflegefachfrau in unserem Team. Von 2200 Kindern, die in den ersten zwei Aprilwochen in Ikongo untersucht wurden, litten fünf Prozent an schwerer akuter Mangelernährung.

In Nosy Varika, einem Küstengebiet, das von Freddy besonders schwer getroffen wurde, haben wir zusammen mit lokalen Behörden die Aktivitäten im Zusammenhang mit Mangelernährung ausgebaut, um der zunehmenden Ernährungsunsicherheit zu begegnen. Zwischen Februar und März haben sich die Aufnahmezahlen von Kindern unter fünf Jahren mit schwerer akuter Mangelernährung mehr als verdoppelt.

Nach dem Zyklon untersuchte und behandelten wir deutlich mehr Kinder als zuvor. Unsere Teams verstärken zudem ihre Unterstützung für die Menschen, indem sie medizinische Versorgung an neuen, noch abgelegeneren und schwer zugänglichen Orten anbieten.

In einer von uns unterstützten Klinik in Ambodirian'i im südöstlichen Distrikt Nosy Varika erhalten Kinder unter fünf Jahren kostenlose Gesundheitsversorgung. Madagaskar, 16. Februar 2023.

In einer von uns unterstützten Klinik in Ambodirian'i im südöstlichen Distrikt Nosy Varika erhalten Kinder unter fünf Jahren kostenlose Gesundheitsversorgung, einschließlich Gesundheitschecks auf Malaria und Unterernährung. Madagaskar, 16. Februar 2023.

© MSF/Kathryn Dalziel

 

Malaria

Die Wirbelsturmsaison und die sogenannte «Hungerperiode» fallen zudem mit der Malaria-Hochsaison zusammen. Malaria ist ein grosses Gesundheitsproblem in Madagaskar und eine der fünf häufigsten Todesursachen.

«Die Malariaepidemien sind nicht mehr wie früher», erzählt die betagte Masy, die im Wartezimmer der Klinik in Sahavato im Distrikt Nosy Varika sitzt. «Heutzutage ist Malaria wirklich heftig. Früher hat es vor allem die Kinder getroffen. Jetzt trifft es alle.»

Sobald es zu Überschwemmungen und stehendem Wasser kommt, nehmen Malariafälle in vielen Regionen von Madagaskar zu. In der Malaria-Hochsaison führen unsere Teams in den südöstlichen Distrikten Malaria-Screenings und -Behandlungen durch. Die Mehrheit der Kinder, die unsere Teams wegen akuter Mangelernährung behandeln, werden auch positiv auf Malaria getestet. In einigen Dörfern sind es gar bis zu 90 Prozent.

Die wissenschaftlichen Prognosen für die Zukunft sind alarmierend. Starke Regenfälle, Überschwemmungen und Wirbelstürme der Kategorien vier und fünf werden zunehmen. Dies bedeutet grössere Bedrohungen für viele, insbesondere für die ländliche Bevölkerung (80 Prozent der Gesamtbevölkerung) und für die 80 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, wie in Nosy Varika. «Ein Viertel der Kinder hier leidet an akuter Mangelernährung und ist vom Tod bedroht», sagt Brian Willett, Einsatzleiter in Madagaskar. «Sofern keine politischen und kollektiven Anstrengungen unternommen werden, wird diese schwere humanitäre Krise aufgrund der extremen Klimaereignisse und der endemischen Armut vorerst kein Ende finden.»