Drei Neugeborene teilen sich ein Wärmebett auf der Intensivstation des Spitals in Mazar-i Sharif in der Provinz Balch.
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Drei Neugeborene teilen sich ein Wärmebett auf der Intensivstation des Spitals in Mazar-i Sharif in der Provinz Balch.
© Logan Turner/MSF

Kinderstationen in Afghanistan am Limit

Es ist sechs Uhr abends, die Nachtschicht auf der Kinderstation des Spitals hat gerade begonnen. Das Weinen der Kinder und das unablässige Piepen medizinischer Geräte erfüllen den kleinen Raum. Die Pflegefachkräfte eilen von einem Bett zum nächsten und überprüfen die Vitalzeichen ihrer Patient:innen. Manche Mütter sitzen an der Seite ihrer Kinder und achten darauf, dass die Sauerstoffmasken nicht verrutschen. Alle Betten sind belegt, teils von zwei Kindern gleichzeitig. Und die nächsten Patient:innen warten schon.

Dr. Ahmed* eilt durch die Tür der Kinder-Notfallstation im Boost-Spital in der Provinz Helmand. «17 Kinder warten auf ihre Behandlung, wir haben aber keinen einzigen freien Platz», erklärt der Notfallmediziner. «Wir sind bereits am Anschlag. Und jeden Tag kommen mehr Patient:innen.»

In der Notaufnahme des Spitals hat sich die Zahl der unter Fünfjährigen zwischen 2020 und 2024 mehr als verdoppelt. Allein im Jahr 2024 wurden 122 335 Kinder registriert. Im April 2025 wurden 13 738 Kinder unter fünf Jahren in der Notaufnahme behandelt. Das ist der höchste Stand seit 2020.

Dies stellt das medizinische Personal vor gewaltige Herausforderungen. Besonders wenn die Kinder in kritischem Zustand mit Sepsis, Atemnot oder schwerer Mangelernährung eingeliefert werden.

Zwischen zwei Untersuchungen versucht Dr. Ahmed, in den anderen Abteilungen des Spitals freie Betten für seine Patient:innen zu organisieren. Seine Kolleg:innen telefonieren mit benachbarten Spitälern, um freie Kapazitäten auszuloten. «Wenn wir keine Lösung finden, bleiben die Kinder in der Notaufnahme – teilweise bis zu zwei Tage», berichtet Dr. Ahmed.

Stopp der US-Hilfen verschärft die Gesundheitskrise

«Der Zugang zu medizinischer Versorgung in Afghanistan hat sich drastisch verschlechtert. Vielen Gesundheitseinrichtungen fehlt es an Personal, Diagnosegeräten und grundlegenden Medikamenten», erklärt Julie Paquereau, medizinische Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan.

Die Lage war bereits vor dem Stopp der US-Entwicklungshilfe Anfang Jahr angespannt. Nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums wurden über eine Milliarde Dollar an Projektmitteln für Afghanistan aus der Entwicklungsagentur USAID abgezogen. Bis zum 10. Juni hatten laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 422 Gesundheitszentren im ganzen Land ihre Arbeit eingestellt oder ganz geschlossen – mit gravierenden Folgen für rund drei Millionen Afghan:innen.

Besonders betroffen sind Frauen und Kinder. Sie müssen länger warten oder weite Strecken zurücklegen, um medizinische Hilfe zu erhalten. Manche sind sogar komplett von der medizinischen Versorgung abgeschnitten.

Julie Paquereau, medizinische Koordinatorin in Afghanistan

Bis zu 2000 Kinder pro Tag im Regionalspital Herat

Im Triage-Zelt des Regionalspitals in Herat drängen sich zahlreiche Frauen mit ihren Kindern.

Seit Jahren steigt die Zahl der Familien, die in die Kinder-Notaufnahme des Regionalspitals in Herat kommen.

Seit Jahren steigt die Zahl der Familien, die in die Kinder-Notaufnahme des Regionalspitals in Herat kommen. An einem durchschnittlichen Tag triagiert das Pflegepersonal rund 1300 Patient:innen. An manchen Tagen sogar bis zu 2000.

© Mahab Azizi

Häufig bringen Mütter ihre Kinder ins Spital, weil sie Angst haben, dass sich ihr Zustand verschlechtert.

Die Mütter wissen nicht, wo sie sonst Hilfe bekommen können. In den lokalen Kliniken fehlt es an Behandlungsmöglichkeiten für ihre Kinder und private Kliniken sind zu teuer. Deshalb kommen sie hierher, weil Ärzte ohne Grenzen die Versorgung kostenlos anbietet.

Jameela, MSF-Pflegefachfrau in der pädiatrischen Triage.

Das erhöht den Druck auf das Pflegeteam in der Triage, zumal immer mehr Kinder in lebensbedrohlichem Zustand eingeliefert werden.

«Als ich endlich bezahlt wurde, hatte sich Asmas Gesundheitszustand stark verschlechtert.»

Zarmeena sitzt in der Kinder-Intensivstation auf dem Bett ihrer sieben Monate alten Tochter Asma und hält ihre Hand. Drei Wochen zuvor hatte Asma plötzlich die Brust verweigert und bekam Fieber, Bauchschmerzen und Durchfall. Da Zarmeenas Mann aufgrund einer Behinderung nicht arbeiten kann, hatte die Familie nicht genug Geld, um Asma zu einem Arzt zu bringen.

Die 20-jährige Zarmeena am Bett ihrer Tochter Asma auf der Intensivstation des von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Boost-Spitals in der Provinz Helmand.

Die 20-jährige Zarmeena am Bett ihrer Tochter Asma auf der Intensivstation des von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Boost-Spitals in der Provinz Helmand.

© Tasal Khogyani/MSF

«Ich habe für eine Frau genäht, sie hat mich aber erst bezahlt, als ich mit der Arbeit fertig war. Ich habe so schnell wie möglich genäht, aber als ich endlich das Geld bekam, hatte sich Asmas Zustand schon stark verschlechtert», erzählt Zarmeena. «Wir waren bei drei oder vier verschiedenen Ärzt:innen. Sie haben uns ein Medikament verschrieben, das 22 Dollar gekostet hat, aber Asma ging es nicht besser.»

Als ihr gesamtes Geld aufgebraucht war, verlor Zarmeena die Hoffnung. Da brachte ihr Bruder sie und ihre Tochter ins Boost-Spital, wo Asma seit neun Tagen behandelt wird. «Jetzt hat sie keine Anfälle mehr. Das medizinische Personal weiss, was es tut. Ich warte so lange, bis es ihr wieder besser geht und sie wieder nach Hause kann. Egal, wie lange es dauert, ich will einfach nur, dass sie wieder gesund wird», sagt Zarmeena.

Frühzeitige Behandlung kann schwerwiegende Komplikationen verhindern

Am anderen Ende Afghanistans, in der Provinz Balch, behandelt Dr. Fareed* im Regionalspital von Mazar-i-Sharif zahlreiche Fälle wie jenen von Asma. Im Mai wurden jeden Tag über 50 Kinder in kritischem Zustand eingeliefert, die sofort behandelt werden mussten.

Wir raten den Eltern, ihre Kinder schon bei den ersten Anzeichen in die nächstgelegene Klinik zu bringen. Eine frühzeitige Behandlung ist entscheidend, um potenziell lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden.

Dr. Fareed

 

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb die Eltern nicht früher ins Spital kommen. Häufig fehlt das Geld für die Anreise oder für die Behandlung, die Schwere der Erkrankung wird zunächst unterschätzt oder es steht keine männliche Begleitperson (Mahram) zur Verfügung, um Mutter und Kind ins Spital zu bringen.

Zurück im Boost-Spital: Am nächsten Morgen verlässt Dr. Ahmed nach einer langen Schicht vollkommen erschöpft, aber mit einem Lächeln die Notaufnahme. Kein Kind musste die Nacht im Wartesaal der Notaufnahme verbringen. «Hoffentlich wird es nächste Nacht etwas ruhiger. Aber ein neuer Tag heisst, dass wieder hunderte Patient:innen ins Spital kommen.»

Die Zahl schwer erkrankter Kinder wird in den kommenden Wochen voraussichtlich weiter steigen. Der Höhepunkt der Mangelernährung dürfte im Laufe des Juli erreicht werden.

* Die Namen wurden zum Schutz der Identität unserer Mitarbeitenden geändert.