Unsere Arbeit ist manchmal ein Drahtseilakt

Unsere Mitarbeiterin Tanbin Muftah blickt auf das Flüchtlingslager Jamtoli in Cox’s Bazar im Süden von Bangladesch. 19. August 2020

Myanmar4 Min.

Die Rohingya sind in Myanmar von systematischer Verfolgung und Gewalt betroffen. In unserem mittlerweile zwanzigjährigen Einsatz mussten wir immer wieder schwierige Entscheidungen treffen. Denn unsere Arbeit hat zwei Schwerpunkte: medizinische Nothilfe und Témoignage – in manchen Fällen sind diese aber nicht so leicht zu vereinbaren.

Témoignage bedeutet in der Praxis, dass wir uns in Krisengebieten, in denen wir Hilfe leisten, auch als Zeug*innen sehen und als Sprachrohr für Menschen in Not auftreten. Dr. James Orbinski, unser damaliger internationaler Präsident, formulierte 1999 treffend: «Wir glauben nicht, dass Worte immer Leben retten können, aber wir wissen, dass Schweigen mit Sicherheit tötet.» 

Erheben wir öffentliche Kritik oder gar Anklage, kann dies jedoch auch Konsequenzen für unsere medizinische Arbeit haben: Es kann dazu führen, dass wir gewisse Aktivitäten einstellen müssen, den Zugang zu Regionen und damit den hilfebedürftigen Menschen verlieren oder - im schlimmsten Fall - sogar komplett aus einem Land ausgewiesen werden. 

In einem der Flüchtlingslager in Cox’s Bazar nehmen Rohingya-Frauen an einer Veranstaltung für Gesundheitsförderung teil. 29. Juli 2020

In einem der Flüchtlingslager in Cox’s Bazar nehmen Rohingya-Frauen an einer Veranstaltung für Gesundheitsförderung teil. 29. Juli 2020

© Anthony Kwan/MSF

Der Drahtseilakt

Damit bewegen wir uns stets auf einem schmalen Grat und müssen unsere Ziele, wie im Fall Myanmars, gegeneinander abwägen: Sprechen wir öffentlich über die Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe und sorgen damit für die Wahrnehmung der Krise, riskieren wir auch, unseren Patient*innen dort nicht mehr helfen zu können. Oder schweigen wir öffentlich über die Verhältnisse, um eben diese Aufgabe erfüllen zu können?

Vertreibung einer ethnischen Minderheit

Im buddhistischen Myanmar sind die vorwiegend muslimischen Rohingya eine ethnische Minderheit. Sie leben vor allem im nördlichen Bundesland Rakhine an der Grenze zu Bangladesch, wo auch die gleichnamige buddhistische Ethnie der Rakhine wohnt. Seit den 1960er Jahren sind die Rohingya systematischer Verfolgung und Gewalt sowohl durch das nationale Militär als auch die Rakhine ausgesetzt, was seitdem zu massiven Vertreibungen ins benachbarte Bangladesch führt.

Wir leisten Nothilfe: Unsere Teams unterstützen Patient*innen an verschiedenen Orten mit mobilen Kliniken, verteilen in Krisensituationen Hilfsgüter und bauen Unterkünfte sowie Sanitärsysteme. Ausserdem bieten wir seit 20 Jahren umfassende Behandlungen für HIV-Patient*innen an.

Im Lager Jamtoli in Cox’s Bazar hat Ärzte ohne Grenzen Wassertanks und Anlagen zur Abwasserentsorgung installiert. 29. Juli 2019

Im Lager Jamtoli in Cox’s Bazar hat Ärzte ohne Grenzen Wassertanks und Anlagen zur Abwasserentsorgung installiert. 29. Juli 2019

© Anthony Kwan/MSF

Würde eine öffentliche Stellungnahme die Einsätze gefährden?

Aufmerksamkeit für diese Krise in Myanmar haben unsere Teams hauptsächlich über diplomatische Kanäle gelenkt und sie sind während des Einsatzzeitraums von 1992 bis 2014 in Myanmar bei internationalen Diplomat*innen oder UN-Organisationen «hinter verschlossenen Türen» für die Belange der Rohingya eingetreten. 

Über die Situation und unsere Verantwortung in diesem Kontext wurde indes intern heftig diskutiert: Würde eine öffentliche Stellungnahme die medizinischen Projekte in Myanmar und Bangladesch gefährden und dazu führen, dass Menschen, deren Leben von uns abhängt, im Stich gelassen werden? 

Das öffentliche Schweigen von Ärzte ohne Grenzen war in unserer Angst begründet, den Zugang zu unseren Patient*innen zu verlieren, einschliesslich der grossen Anzahl von HIV/AIDS-Patient*innen in Myanmar.

Christos Christou, unser Internationaler Präsident.

Die Gefahr der Komplizenschaft

Stephen Cornish, der Direktor der kanadischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, sagte bei einem Treffen zum Einsatz in Myanmar vor zehn Jahren: «Es besteht die Gefahr der Komplizenschaft. Wir müssen über das, was wir sehen, sprechen.» 

Kurze Zeit später, im Jahr 2012, waren wir jedoch nach Gewaltausbrüchen in Rakhine gezwungen, folgendes Statement zu veröffentlichen: «Wir können bestätigen, dass einige unserer Mitarbeiter*innen inhaftiert wurden. (…) Wir haben unsere Aktivitäten vorübergehend eingestellt und das Personal in den Projekten reduziert (…).»

Aktuell wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag ein Verfahren gegen Myanmar verhandelt – unter anderem wegen Völkermordes an den Rohingya.
 

Zurückblicken und für die Zukunft lernen

Ärzte ohne Grenzen veröffentlicht nun einen Bericht  zum Thema, in dem zwei Jahrzehnte unserer Aktivitäten im Rahmen der humanitären Hilfe und dem Eintreten für die Belange der Rohingya-Bevölkerung beleuchtet werden. Im Fokus stehen dabei vor allem die Dilemmata, mit denen die Organisation sowohl vor Ort als auch in den internationalen Büros im Zusammenhang mit Témoignage - der Verpflichtung, Zeugnis abzulegen - konfrontiert war.

Wir setzen uns weiterhin mit dem Thema auseinander und zeigen in der Serie «Speaking Out Case Studies» auf transparente Weise, wie schwierig es ist, sich mit den humanitären Dilemmata im Zusammenhang mit der öffentlichen Positionierung auseinanderzusetzen. 

Wir sind bereit, unsere einzigartige Erfahrung mit aktuellen und zukünftigen Führungskräften der humanitären Hilfe zu teilen, um deren Wissen, Selbstvertrauen und Engagement bei der Positionierung in der Öffentlichkeit zu fördern. Wir stellen alle 13 Berichte auf unserer internationalen Website zum Download zur Verfügung.