Migration in Europa: EU-Regierungschefs treiben tödliche Politik weiter voran

Geo Barents im Mittelmeer

Konfliktzonen9 Min.

Mehr Menschen als je zuvor werden derzeit aufgrund von Konflikten, Menschenrechtsverletzungen, der Klimakrise und den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. In ganz Europa erlebt Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) immer wieder, wie Menschen auf der Flucht im Meer ertrinken, an den Grenzen abgefangen und zurückgedrängt werden, ihnen humanitäre Hilfe verweigert wird und sie kriminalisiert werden, weil sie sich in Sicherheit bringen wollen.

Anstatt ihrer internationalen Verantwortung gegenüber Menschen, die vor ihrer Haustür Sicherheit suchen, nachzukommen, verfolgen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach wie vor eine Strategie, die Menschenleben kostet. Mit ihrer Reaktion auf die Massenflucht durch den Krieg in der Ukraine hat die EU aber gezeigt, dass sie in der Lage ist, eine menschliche Migrationspolitik umzusetzen. Es fehlt nur der politische Wille.

Von den Aktionsplänen für das zentrale Mittelmeer und den Westbalkan über den Migrationspakt bis hin zur Finanzierung und Auslagerung von gefährlichen Grenzkontrollen in andere Länder, wie z. B. Libyen: Die EU untergräbt das Asylsystem und versagt darin, Menschen, die Sicherheit suchen, einen angemessenen Schutz zu bieten.

Einige Mitgliedsstaaten der EU, darunter auch Italien, unternehmen grosse Anstrengungen, um die Kontrollen an den Grenzen zu verschärfen und Menschen daran zu hindern, in ein anderes Land zu flüchten, und kriminalisieren gleichzeitig zivile Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer.

«Wir fordern die EU-Staats- und Regierungschefs auf, dem Schutz von Menschenleben Priorität einzuräumen und Flüchtenden, die in Europa Sicherheit suchen, eine menschenwürdige Behandlung zukommen zu lassen», erklärt Julien Buha Collette, Koordinator der Einsätze in Europa.

Der medizinische Bedarf der Menschen und ihr Recht auf ein faires Asylverfahren müssen respektiert werden und Vorrang vor allem anderen haben.

Julien Buha Collette, Koordinator der Einsätze in Europa.

Jeden Tag versorgen unsere Teams Menschen – darunter auch Kinder – medizinisch und psychologisch. Sie kommen auf der Suche nach Sicherheit nach Europa, sind aber stattdessen mit Gewalt, unangemessene Lebensbedingungen, zu wenig Nahrungsmitteln, Wasser und fehlenden sanitären Einrichtungen konfrontiert.

Gewalt auf der Balkanroute

«Sie zogen mir Schuhe und Jacke aus, legten mir eine Plastikschnur um die Handgelenke, drückten mein Gesicht auf den Boden und schlugen mich mit Stöcken auf mein Bein», berichtete ein Mann aus Marokko unseren Teams, nachdem er von Grenzbeamten in Bulgarien angegriffen worden war.

Sie nahmen mir meine Schuhe, meine Jacke, mein Telefon und mein Geld ab. Sie sagten nichts, sondern schlugen nur weiter auf mich ein und lachten.

Betroffener von Grenzgewalt in Bulgarien

Unsere Teams die entlang der Westbalkanroute und entlang der belarussischen Grenzen mit Lettland, Litauen und Polen arbeiten, behandeln immer mehr Menschen mit Verletzungen. Diese ziehen sie sich bei dem Versuch zu, die immer höher werdenden Grenzzäune der EU zu überwinden. An der polnisch-belarussischen Grenze und an der serbisch-ungarischen Grenze kümmern wir uns um Brüche, Schnitte und Wunden, die wegen fünf Meter hoher Stacheldrahtzäune entstanden sind.

Unsere Patient:innen berichten immer wieder, dass sie von Grenzsoldaten, Polizisten und Hunden angegriffen werden. Bevor man sie in das Land zurückschickt, aus dem sie geflohen sind, beraubt man sie zudem ihrer Habseligkeiten. In Griechenland, Italien und Frankreich haben wir Berichte von Menschen gehört, die sowohl auf dem See-  als auch auf dem Landweg zurückgewiesen wurden.

Missachtung des internationalen Rechts

Anstatt diese Gewalt zu untersuchen und zu stoppen, bemühen EU-Staatschef:innen Narrative zu verbreiten, die Migrant:innen kriminalisieren und solche Massnahmen rechtfertigen. In den letzten Jahren hat die Umsetzung dieser Massnahmen durch verschiedene Mitgliedstaaten wie Griechenland, Polen, Ungarn und Litauen immer wieder zu gewaltsamen Push-backs geführt. Anstatt in den Ausbau von Aufnahmezentren und die Verbesserung der Aufnahmebedingungen innerhalb der EU zu investieren, konzentrieren sich die Mitgliedstaaten auf die Einschränkung von Einreisen und die Auslagerung ihrer internationalen Verantwortung an andere weniger sichere Länder wie Libyen.

«Die Menschen überleben die Überfahrt via Mittelmeer oder die Flucht über die Berge und durch die Wälder Europas, um dann auf EU-Gebiet eine unmenschliche Behandlung zu erfahren», sagt Buha Collette.

Überall in Europa erleben wir, dass Gewalt an den Grenzen normal geworden ist. Zusätzlich zu den Todesfällen im Mittelmeer und den gewaltsamen Rückführungen haben wir von Kindern gehört, die in Ungarn in Schiffscontainer gesperrt wurden und Tränengas ausgesetzt waren, bevor sie nach Serbien zurückgebracht wurden. Das ist unmenschlich.

Julien Buha Collette, Koordinator unserer Einsätze in Europa.

Die Geschichten, die wir von Patient:innen hören, belegen die Missachtung folgender internationaler Rechte durch die EU:

  • Das Recht, Asyl zu beantragen
  • Die Verpflichtung, Menschen in Seenot zu helfen
  • Das Verbot von unmenschlicher, grausamer und erniedrigender Behandlung sowie Folter

«Vor meiner ersten Ankunft in Griechenland habe ich sechs Push-backs erlebt», berichtet ein Mann aus Somalia den Teams in Griechenland. «Beim letzten Mal kamen wir morgens mit dem Boot auf Lesbos an. Als wir das Ufer erreichten, teilten wir uns auf und rannten in die Büsche. Nachdem wir uns viele Stunden versteckt hatten, fanden mich einige Männer, die Sturmhauben trugen. Sie warfen meine Jacke und meine Schuhe weg. Sie schlugen uns, luden uns in ein Schlauchboot und schoben uns zurück aufs Meer – zurück in die Türkei.» 

Geschlossene Camps sollen angeblich bessere Lebensbedingungen bieten

Die EU finanziert in Griechenland Hochsicherheits-Aufnahmezentren, sogenannte Closed Controlled Access Center (CCAC). Zwar wird gesagt, dass diese die Lebensbedingungen für die auf den Inseln ankommenden Migrant:innen verbessern sollen. Doch sie schränken die Bewegungsfreiheit stark ein; die Menschen werden in diesen gefängnisähnlichen Einrichtungen festgehalten. Auf Samos umgibt ein Stacheldrahtzaun das CCAC. Das Aufnahmezentrum wird rund um die Uhr überwacht, die Menschen werden beim Eintritt durchleuchtet und anhand biometrischer Daten (wie Fingerabdrücke) identifiziert.

Anstatt aus Fehlern zu lernen, verfolgt die EU verstärkt den so genannten «Hotspot»-Ansatz. Dieser konzentriert sich auf Abschiebung und Inhaftierung anstelle von Hilfe und Schutz. Werden die Legislativvorschläge, die derzeit innerhalb der EU diskutiert werden, verabschiedet, dann soll dieser Ansatz EU-weit übertragen werden. Dazu gehören auch beschleunigte Asylverfahren, welche die Zeit für die Bearbeitung von Asylanträgen stark verkürzen sollen. Dies würde zur Abschiebung vieler Menschen führen, die keine Chance auf eine faire Anhörung hatten. Darüber hinaus würde die Altersgrenze für eine Inhaftierung auf 12 Jahre gesenkt werden.

Unsere Teams für mentale Gesundheit in Griechenland behandeln weiterhin Patient:innen, die unter Not leiden und schwer traumatisiert sind. Ihre Traumatisierung könnte aufgrund solcher Einschränkungen und einem verkürzten Asylverfahren, das die Angst vor einer Abschiebung zurück in ein gefährliches Gebiet schürt, zunehmen.

Derweil kümmern wir uns in Frankreich, Belgien und den Niederlanden um Asylbewerber:innen. Darunter sind auch unbegleitete Minderjährige, die auf der Strasse leben müssen, da sie keinen Zugang zu einer sicheren Unterkunft erhalten haben.

Auslagerung der Verantwortung in andere Länder

2022 wurden etwa 23 600 Menschen von der EU-finanzierten libyschen Küstenwache aufgegriffen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht. Laut dem jüngsten UN-Bericht besteht für Migrant:innen in Libyen ständig das Risiko, willkürlich inhaftiert zu werden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgeliefert zu sein. Im laufenden Jahr wurden bereits mehr als 4200 Menschen gewaltsam nach Libyen zurückgebracht. Mehr als 940 Personen haben dieses Jahr ihr Leben verloren oder werden vermisst, nachdem sie die gefährliche Route über das zentrale Mittelmeer von Libyen nach Europa gewagt hatten. Das ist die höchste Zahl an Toten oder Vermissten über einen Zeitraum von vier Monaten seit 2017.

«Nach der Einreise wurden wir in ein libysches Gefängnis gebracht», berichtete ein junger Mann aus Kamerun unseren Teams in Libyen. «Ich habe dort acht Monate verbracht. Sie schlugen uns heftig – bis wir sie bezahlten. Wenn jemand kein Geld hatte, riefen sie seine Familie an und verlangten Geld für dessen Freilassung. Sie liessen Familien am Telefon zuhören, während sie Inhaftierte schlugen. Manchmal machten sie sogar Videos von solchen Misshandlungen und schickten sie an die Familien. Ich habe weder Geld noch Familie; ich war acht Monate lang eingesperrt und wurde verprügelt. Als sie mich mit einem Metallstock schlugen, erlitt ich so schwere Verletzungen an einem Auge, dass ich darauf erblindete. Sie haben mich nicht einmal ins Spital gebracht, als das passierte.»

«Die Abschreckungspolitik der EU wird Tragödien wie die jüngsten Schiffbrüche nicht verhindern und die Menschen auch nicht davon abhalten, sich in Sicherheit zu bringen. Vielmehr wird sie Menschen noch gefährlicheren Routen übers Meer aussetzen», so Buha Collette.