«Und wir hielten zusammen - nicht als Geflüchtete, sondern als Menschen»

Georges mit seiner Familie. 7. Juni 2020 in Nduta, Tansania

Tansania5 Min.

Vor fünf Jahren floh Georges* mit dem Fahrrad aus Burundi ins Nachbarland Tansania. Er floh vor gewaltvollen Konflikten. Heute ist er einer unserer Mitarbeitenden im Flüchtlingslager Nduta im Nordwesten von Tansania. Er lebt mit seiner Familie in Sicherheit und hat vieles von dem gefunden, was er sich erhofft hat. Ende gut – alles gut? Nicht ganz. Dies ist seine Geschichte.

«Wenn ich an meine Heimatstadt denke, erinnere ich mich, wie ich an warmen Tagen über den sonnenverbrannten Asphalt am goldenen Ufer des Tanganjikasees entlang radelte, wo Flusspferde an der Wasseroberfläche hervorschauten und Kinder bei Sonnenuntergang im Wasser spielten. Ich erinnere mich an die bunten Gewänder meiner Freund*innen, die sich an der blau-weissen Kirche versammelten, und an das Echo der Stimme des Pastors auf der sonnenbeschienenen Kanzel. Ich erinnere mich an den Tag meines Universitätsabschlusses: Das stolze Gesicht meiner Freundin, die Lachfalten in ihren Wangen, und ich erinnere mich, dass ich glücklich war.

Der bittere Geschmack der Angst

Doch es ist schmerzhaft für mich, mich an den Tag im Jahr 2015 zu erinnern, an dem ich alles hinter mir lassen musste. Die Tage zuvor waren von Schüssen und Explosionen überschattet – diese traurigen Erinnerungen gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf.

Die Dinge in meinem Land waren dabei, sich zu ändern. Eines Abends brachen zwei Männer mit Gewehren in mein Haus ein, zwangen mich, mich auf den Bauch zu legen und drohten, mich zu erschiessen, während sie all meinen Besitz stahlen. Danach blieb der bittere Geschmack der Angst in meiner Kehle zurück und üble Magenschmerzen plagten mich fortan, da in meinem Viertel nun täglich Gewalt ausbrach.

«Die Kämpfe erklangen wie Kirchenglocken zur vollen Stunde»

Ich wusste, dass ich gehen musste, obwohl ich meine Arbeit, meine Familie, meine Kirche und mein Zuhause nicht zurücklassen wollte. Als ich meine Freundin zum Abschied küsste, fühlte ich warme und feuchte Tränen auf ihren Wimpern. «Ich weiss nicht, wohin ich gehe, aber ich werde dir schreiben, wenn ich dort ankomme», versprach ich ihr.

Ich machte mich mit meinem Fahrrad auf den Weg. Alles, was ich bei mir hatte, waren ein Rucksack mit einigen Kleidungsstücken, meine Bibel, ein Mobiltelefon und etwa 80 US-Dollar. Ich fuhr stundenlang mit dem Fahrrad und versteckte mich hinter Bäumen und Gebäuden, wenn ich Schüsse hörte. Ich fuhr durch Städte, in denen die Kämpfe wie Kirchenglocken zur vollen Stunde erklangen, ich radelte durch frische, klare Luft hinauf auf Berggipfel und fuhr per Anhalter auf Lastwagen über kurvenreiche, von Eukalyptusbäumen gesäumte Dorfstrassen.

«Hier begann mein Leben als Geflüchteter»

Nach fünf Tagen überquerte ich die Grenze zu Tansania. Meine Kleidung war klatschnass und mein Gesicht erschlafft vor Erschöpfung. Hier begann mein Leben als Geflüchteter...

Zuerst war ich mich mit etwa 20 Männern in einer Halle in einem Transit-Flüchtlingszentrum in der Nähe der Grenze untergebracht. Wir schliefen auf Matten auf dem harten Lehmboden und assen mit Wasser verdünnten Mais, da es nicht genug für alle gab. Ich sang für die anderen und gemeinsam beteten wir, dass wir eine Unterkunft, Wasser und Sicherheit finden würden. Nach einer Woche wurde ich von der UNO in das Lager Nyarugusu gebracht, in dem etwa 150 000 Flüchtlinge aus Burundi und der Demokratischen Republik Kongo lebten.

Als ich im Lager ankam, regnete es unerbittlich. Alles, was ich sehen konnte, war ein Meer aus Schlamm, das gesprenkelt war mit weissen Plastikplanen, die von rostigen Stangen in der Luft gehalten wurden. Ich teilte mein Zelt mit sechs anderen Männern, schlief auf einer Matte auf dem harten Boden, vollständig bekleidet, und zitterte aufgrund der Nässe. Der Regen sickerte durch die Plastikplane und bald waren überall Läuse: in meinen Haaren, in meiner Kleidung, im Bettzeug.

Allein von Flüchtlingscamp zu Flüchtlingscamp

Am Anfang war ich einsam, aber die anderen Männer um mich herum gaben mir Energie. Wir sammelten Feuerholz und sassen abends um die Flammen herum, kochten Brei und erzählten von unseren Heimatorten und Familien. Mir wurde klar, dass ich nicht allein war und dass viele meiner Brüder hier viel mehr gelitten hatten als ich. Wir hatten einander und wir hielten zusammen - nicht als Geflüchtete, sondern als Menschen.

Nach zweieinhalb Monaten wurde ich in ein anderes Flüchtlingslager namens Nduta im Nordwesten Tansanias verlegt. Ich schlief nicht mehr unter Plastikplanen, sondern lebte in einem Zelt und baute schliesslich mein eigenes Haus aus trockenem Holz und Schlamm. Zusammen mit den Mitgliedern der örtlichen christlichen Gemeinde bauten wir auch eine neue Kirche für das Camp.

Ich bekam bald eine Stelle bei Ärzte ohne Grenzen. Dort arbeite ich mit Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Ingenieur*innen aus der ganzen Welt zusammen, darunter auch Tansanier*innen und ich fühle mich ihnen zugehörig. Wir sind die einzigen, die im Camp medizinische Versorgung anbieten und behandeln Malaria, Masern, Diabetes und Dutzende andere lebensbedrohliche Erkrankungen, denen die Menschen im Camp ausgesetzt sind.

Im Juni 2016 verliess meine Freundin Burundi, um die gleiche Reise anzutreten wie ich und wir wurden schliesslich im Flüchtlingslager Nduta wiedervereint. Nach einem Jahr der Trennung und der ständigen Angst um das Leben des anderen heirateten wir in der Kirche im Camp.  Heute haben wir einen Sohn namens GoodLuck Tena.

«Wir sind weder verhext noch böse»

Ich lebe seit fünf Jahren als Geflüchteter in Tansania und alles, worum ich bitte, ist: Bitte urteile nicht über uns, weil wir Geflüchtete sind. Wir sind weder verhext noch böse, wir sind Menschen wie Du. Wir leben und fühlen mit Ängsten und Träumen wie jeder Mensch. Was uns passiert ist, kann jedem auf der Welt passieren. Niemand entscheidet sich dafür, Geflüchtete*r zu sein.

Ich hoffe, dass ich eines Tages in meine Heimat zurückkehren kann, an einen sicheren Ort. Ich vermisse meine Kirche und unsere farbenfrohe Gemeinde und ich vermisse meine Familie. Eines Tages werde ich auf dem Land, das ich dort besitze, mein eigenes Haus bauen und bei Sonnenuntergang mit meinem Sohn und meiner Frau neben mir am Ufer des Tanganjikasees entlang radeln.»

* der Name wurde geändert