Steigender Hilfebedarf im Libanon wegen multipler Krisen

Blick von der informellen Zeltsiedlung (Informal Tented Settlement, ITS) Rif Al Sham in Arsal.

Libanon9 Min.

Wirtschaftskrise, politische Instabilität und soziale Spannungen: Seit Ende 2019 befindet sich der Libanon in einer massiven Krise. Auch die Covid-19-Pandemie hat das Land stark getroffen. Zu all dem kam die verheerende Explosion, die im August 2020 die Hauptstadt Beirut erschütterte. Der Hilfebedarf in der Bevölkerung ist dadurch gestiegen; Tausende wurden in die Armut getrieben. Hinzu kommt, dass der Libanon im Vergleich zu seiner Einwohnerzahl weltweit am meisten Flüchtlinge aufnimmt.

«Diese Situation hat die Probleme in der Bevölkerung weiter verschärft. Wegen der Wirtschaftskrise und der steigenden Kosten haben viele Menschen zunehmend Mühe, sich Grundgüter wie Lebensmittel zu leisten», erklärt Dr. Caline Rehayem, unsere stellvertretende medizinische Koordinatorin im Libanon.  «Auch Arztkosten sind für besonders bedürftige Personen nahezu unerschwinglich geworden. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung wird somit erschwert, was zu einer allgemeinen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Bevölkerung führt.» 

So hatten unsere Mitarbeitenden in den MSF-Kliniken im vergangenen Jahr zahlreiche Patient*innen, die wegen der Wirtschaftslage in finanzielle Schwierigkeiten gerieten. Einige sind deshalb nicht mehr in der Lage, sich ihre benötigten Medikamente zu leisten. Auch die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen sind sichtbar – dies bereitet Ärzte ohne Grenzen besondere Sorge.

Immer mehr sind von Armut betroffen

Laut der UNO ist über die Hälfte der libanesischen Bevölkerung von Armut betroffen, das entspricht mehr als einer Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Von den syrischen Flüchtlingen im Land leben gemäss Schätzungen 89 Prozent in extremer Armut , was bedeutet, dass sie mit weniger als 10 000 libanesischen Pfund (ca. CHF 5.90) auskommen müssen. 

Immer mehr Libanes*innen haben sich deshalb letztes Jahr an Ärzte ohne Grenzen gewendet, weil sie sich ihre Arztkosten nicht mehr leisten konnten. In der MSF-Klinik in Hermel, im Norden der Bekaa-Ebene, hat sich die Zahl der libanesischen Patient*innen mit chronischen Krankheiten zwischen 2019 und 2020 mehr als verdoppelt. In Arsal, einer anderen Stadt in der Bekaa-Ebene, hat die Zahl der pädiatrischen Konsultationen für junge Libanes*innen innerhalb eines Jahres ebenfalls um 100 Prozent zugenommen.

Schon zuvor konnten sich viele medizinische Leistungen kaum leisten, da das libanesische Gesundheitssystem in hohem Mass privatisiert ist. Die jährliche Inflationsrate, die im November bei 133 Prozent  lag, hatte sowohl für die libanesische Bevölkerung als auch für Flüchtlinge direkte Auswirkungen, was die Erreichbarkeit von medizinischer Versorgung betrifft. 

Eine Frau sitzt draussen auf einem Plastikstuhl. Hinter ihr ist viel Wäsche an einer Schnur aufgehängt.

Fatimasitzt vor dem Haus ihrer Schwiegereltern in Hermel, im nördlichen Teil des Bekaa-Tals. Libanon, 09. Dezember 2020.

© Karine Pierre/Hans Lucas for MSF

«Vor zwei Monaten hat mein Mann seine Stelle verloren. Wir waren schon immer arm, aber vorher kamen wir irgendwie zurecht», sagt Fatima, eine 58-jährige Libanesin. Sie lebt in Hermel und leidet an schweren Komplikationen im Zusammenhang mit Diabetes. «Wir ernähren uns vor allem von Linsen, Bulgur und Kartoffeln. Das ist für mich nicht ideal, aber es ist das, was wir uns leisten können. Ohne Ärzte ohne Grenzen wäre ich für meine Medikamente auf die Wohltätigkeit von anderen angewiesen.»

Für Diabetiker innen ist eine ausgewogene Ernährung zentral, damit sie die Blutzuckerwerte im Griff haben und die Risiken für Komplikationen verringern können. In den MSF-Kliniken im ganzen Land klagen jedoch Patient*innen, dass sie nur schwer an Lebensmittel wie Fleisch, Huhn oder gewisse Gemüsesorten kommen. 

Ahmed ist ein syrischer Flüchtling, der mit seiner Familie in einer informellen Zeltsiedlung ausserhalb Arsals lebt. Vor vier Monaten wurde bei seiner jüngsten Tochter, der eineinhalb Jahre alten Zeinab, eine Anämie (Blutarmut) diagnostiziert. «Sie machte einen sehr kranken Eindruck. Sie war ganz blass und ass fast nichts mehr», erinnert sich Ahmed. «Der Arzt verschrieb uns ein Eisenpräparat und empfahl uns, ihr mehr Gemüse und Hülsenfrüchte zu geben, denn Fleisch liegt für uns nicht mehr drin. Die Preise sind um das Vierfache gestiegen, und es wird nur noch schlimmer».

Ein Mann sitz mit seinen drei Kindern in ihrer provisorischen Unterkunft.

Ahmed sitzt mit drei seiner Kinder in ihrer provisorischen Unterkunft. Arsal, Libanon, 08. Dezember 2020

© Karine Pierre/Hans Lucas for MSF

Eine Krise nach der anderen

Die Covid-19-Pandemie, gefolgt von der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im August, hat die bereits prekäre Lage noch verschärft. Im öffentlichen Gesundheitssystem gab es wegen der Finanzkrise schon vorher regelmässig Engpässe bei Medikamenten und medizinischem Material; nun wird es auf eine besonders harte Probe gestellt.

Durch die Explosion im August wurden Tausende verletzt und Zehntausende obdachlos; daneben wurden aber auch öffentliche Einrichtungen wie Spitäler zerstört. Auch das Zentrallager der Gesundheitsbehörde wurde stark beschädigt.

Im Rahmen unseres Notfalleinsatzes nach der Explosion  führten MSF-Teams bei 253 zufällig ausgewählten Patient*innen mit chronischen Krankheiten eine Umfrage durch. Diese ergab, dass 29 Prozent von ihnen schon vor der Explosion ihre Medikamente abgesetzt oder nicht mehr vollumfänglich einnahmen. Fast die Hälfte dieser Patient innen gab an, dass finanzielle Schwierigkeiten der Grund dafür waren, bei 11 Prozent waren es Medikamentenengpässe.

Ein Arzt mit einem Stethoskop untersucht ein kleines Mädchen.

Ein MSF-Arzt untersucht die sechsjährige Fatima, die unter einer Atemwegsinfektion leidet. Arsal, Libanon, 07. Dezember 2020

© Karine Pierre/Hans Lucas for MSF

«Wenn ich ins Gesundheitszentrum gehe, höre ich oft, dass keine Medikamente verfügbar sind. In den Apotheken gibt es ähnliche Probleme», erzählt die Libanesin Mariam, Mutter von acht Kindern, die in Abdeh im Norden lebt. Mariam leidet an mehreren chronischen Krankheiten, darunter an Diabetes und Herz-Kreislauf-Problemen. Ihr jüngster Sohn hat Asthma. 

«Ich bekomme Angst, wenn ich daran denke, was wäre, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte. Wie könnte ich dann all die Medikamente kaufen? Ich müsste mich wohl zwischen den Medikamenten für meinen Sohn und meinen eigenen entscheiden.»

Seit der Explosion hat das Gesundheitswesen auch mit der steigenden Zahl der Covid-Erkrankungen zu kämpfen. Betrug die Zahl der Neuansteckungen vor der Explosion pro Tag weniger als 200, lag sie im Dezember bei durchschnittlich 1500 pro Tag. Bis heute sind über 199 000 Infektionen registriert worden. 

Um das Gesundheitssystem zu entlasten, hat Ärzte ohne Grenzen die Covid-Hilfsmassnahmen ab August 2020 verstärkt. So haben wir unser Spital in Bar Elias in der Bekaa-Ebene in ein Behandlungszentrum für Covid-19-Patient*innen umfunktioniert. Dieses hat 20 Betten, fünf davon für Intensivpflege. Die Intensivstation ist seit Ende September ständig voll belegt. Ärzte ohne Grenzen unterstützt auch eine Isolierstation in Sibline im Süden des Landes. Unsere Teams helfen zudem an mehreren Orten im Land bei Testaktivitäten, Massnahmen zur Gesundheitsförderung und bei Schulungen zum Thema Covid-19 mit.

Die Ausgangssperre hat die wirtschaftlichen Probleme zusätzlich verschlimmert. «Mein Mann arbeitete als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder auf dem Bau. Mit der Wirtschaftskrise und jetzt mit dem Coronavirus ist das schwierig geworden. Er arbeitet nur noch zwei bis drei Tage pro Woche, und manchmal hat er zwei Wochen nichts. Wenn er keine Arbeit findet, müssen wir uns Geld von den Nachbarn leihen, um Essen kaufen zu können», erzählt Samaher, 40 Jahre, aus Syrien. Sie lebt in einer informellen Siedlung im Gouvernement Akkar, in der Nähe der syrischen Grenze.

 

Jede Krise zerrt an der Widerstandsfähigkeit der Menschen

Viele Menschen im Libanon – ob Einheimische, Flüchtlinge oder Wanderarbeiter*innen – hatten bereits vorher mit traumatischen und belastenden Erfahrungen in Zusammenhang mit Krieg oder Vertreibung zu kämpfen. Die immer schlechteren Lebensbedingungen infolge der Wirtschaftskrise sind nun noch eine zusätzliche Bürde für sie. Diese Stressfaktoren haben sich auch auf das psychische Wohlergehen der Bevölkerung ausgewirkt. Zahlreiche Patient*innen, die bei uns psychologische Hilfe suchen, leiden an Depression, Ängsten und Verzweiflung. 

«Ich bin deprimiert und fühle mich so nutzlos. Die wirtschaftliche Lage im Libanon ist eine Katastrophe. Ich hoffe einfach, dass wir nicht auf der Strasse landen», sagt Tawfik, ein palästinensischer Flüchtling, der im Lager Shatila in Beirut lebt. Seine Familie ist komplett auf die Unterstützung von UN- und Hilfsorganisation angewiesen. 

Auch Fatima in Hermel ist verzweifelt. «Ich weine viel und fühle mich schuldig wegen meiner Tochter, die für ihr Alter viel zu viel Verantwortung tragen muss. Es gibt rein gar nichts, das mich trösten kann», sagt sie. «Die Wirtschaftskrise war der Todesstoss. Alles, was ich mir wünsche, ist ein menschenwürdiges Leben.» 

Jede weitere Krise zerrt an der Widerstandskraft der Menschen, weiterzumachen wird immer schwieriger. 
«Wir versuchen, unter diesen komplexen Voraussetzungen so gut wie möglich zu helfen», so Rehyaem. «Unsere Kapazitäten sind jedoch begrenzt, und wir können nicht alle Bedürfnisse abdecken.»

Ärzte ohne Grenzen im Libanon:

Ärzte ohne Grenzen steht im Libanon besonders bedürftigen Menschen zur Seite, egal ob Libanes*innen oder Menschen aus anderen Ländern. Die Organisation ist an rund zehn Orten tätig. Unsere Teams bieten psychologische Hilfe, Leistungen im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit, Pädiatrie, Impfungen und die Behandlung chronischer Krankheiten an. Mit über 600 Mitarbeitenden hält Ärzte ohne Grenzen im Libanon jährlich rund 150 000 Sprechstunden ab. Die Organisation hatte 1976 ihren ersten Einsatz im Land und ist seit 2008 permanent vor Ort.