Seuchen: Sündenböcke gesucht

Südafrika, 20.01.2019

4 Min.

Anfang März 1900 war der China-Amerikaner Chick Gin (Chung Ging oder Wong Chut King, je nach Transliteration) in San Francisco das erste Opfer der Beulenpest auf dem US-amerikanischen Festland. Die Mikrobiologie steckte noch in den Kinderschuhen, und die Todesursache konnte nicht sofort bestätigt werden. Politiker und Gesundheitsbehörden ergriffen dennoch bereits Massnahmen, die bis in die heutige Zeit nachhallen.

Aus Angst vor den Folgen, die eine solche Krankheit für die Wirtschaft haben könnte, bestritt der kalifornische Gouverneur die Existenz der Pest – was ihn jedoch nicht daran hinderte, über das dortige Chinatown Quarantäne zu verhängen. Nicht-asiatische Wohnhäuser und Geschäfte im selben Gebiet waren aber davon ausgeschlossen. Alle Chinesen (und Japaner), welche die Stadt verlassen wollten, mussten sich mit einem experimentellen Impfstoff impfen lassen. Dieser Pestimpfstoff war 1897 vom Bakteriologen Waldemar Haffkine entwickelt worden und konnte heftige Reaktionen auslösen.

Chinesische Immigranten mögen damals als «tickende Zeitbomben» bezeichnet worden sein, doch dass Krankheiten mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Verbindung gebracht wurden, hatte schon viel früher begonnen und beschränkte sich nicht auf Amerika. Schon seit jeher suchte man gerne bei Minderheiten nach einem Sündenbock. Die Panik, die jeweils bei neuen oder missverstandenen Krankheiten ausbrach, verstärkte diese Vorurteile nur noch weiter.

Das archetypische Beispiel für das Sündenbock-Denken im medizinischen Bereich  sind die Verfolgungen und Massaker europäischer Juden während der Zeit des Schwarzen Todes. Während man im Mittelalter zunächst Lepra-Kranken und Landstreichern vorwarf, Brunnen zu vergiften, gab man später den Juden die Schuld dafür, was dazu führte, dass ganze Gemeinschaften ausgelöscht wurden. Siebenhundert Jahre später wurde erneut eine Krankheit zur Diffamierung der Juden benutzt: Während des Holocaust wurden sie für das Fleckfieber verantwortlich gemacht, eine durch Körperläuse übertragene Krankheit.

Das Auftreten der Syphilis im Neapel des späten 15. Jahrhunderts führte zu einem bizarren Streit über den Ursprung der Seuche. Während sich die Krankheit zunächst in Europa und schliesslich durch die Seefahrer in der ganzen Welt verbreitete, zeugte die Namensgebung von den jeweiligen Rivalitäten. So war es die «Neapolitanische Krankheit» für die Franzosen, die «Franzosenkrankheit» für die Italiener. Die Russen gaben den Polen die Schuld, die Holländer den Spaniern und die Japaner den Chinesen. Die Türken nahmen es weniger genau: Für sie war es schlicht die «Christenkrankheit».

Diese gegenseitige Schuldzuweisung auf nationaler Ebene konnte als grotesk bezeichnet werden, doch als man die Erkrankung später mit benachteiligten Frauen in Verbindung brachte, hatte dies schwerwiegendere Folgen. So liessen im Grossbritannien des 19. Jahrhunderts die Contagious Diseases Acts (Gesetze über ansteckende Krankheiten) die Verhaftung und anschliessende Zwangsbehandlung von Prostituierten (auch vermeintlichen)  zu. Dies mit dem Ziel, die innerhalb des Militärs grassierenden Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen. 

Auch die Cholera hat ihren Platz in der Geschichte des Sündenbock-Denkens: Die ärmsten und am stärksten benachteiligten städtischen Gebiete waren stets am anfälligsten für die Seuche, so dass die über das Wasser übertragene Krankheit schnell mit den unteren Schichten assoziiert wurde. Diese Assoziation wurde später auf Immigranten übertragen, selbst als man bessere Kenntnisse über die Ansteckungswege hatte.

In der heutigen Zeit werden soziale Randgruppen und Minderheiten wegen Krankheiten sicherlich nicht mehr im gleichen Ausmass verfolgt; vor Gewalt und Diskriminierung sind sie dennoch nicht gefeit. Ein Paradebeispiel dafür war in den 1980er Jahren die Ausgrenzung der «4 Hs » – Homosexuelle, Heroinabhängige, Haemophiliacs (Bluter) und Haitianer – die alle zu den HIV-Risikogruppen gehörten. 2010 wurden in Haiti Voodoo-Priester gelyncht, nachdem Gerüchte aufgetaucht waren, diese hätten das Wasser mit Cholera-Pulver vergiftet. Erst nachher zeichneten sich die Vereinten Nationen für den Cholera-Ausbruch verantwortlich. Ein noch jüngeres Beispiel sind all die Gerüchte und Falschinformationen rund um Ebola, die zuerst in Westafrika und jüngst auch in der Demokratischen Republik Kongo den Tod von Gesundheitspersonal verursacht haben.

Und nun eben Covid-19: Die teilweise heftigen Reaktionen lassen durchaus Vergleiche mit der Vergangenheit zu und sind weder bei der Bekämpfung der Krankheit noch bei der Eindämmung der damit einhergehenden Panik hilfreich. Auch  wenn sich bei dieser Verbindung von Hass und Seuchen kein Muster ausmachen lässt, erfolgt die Auswahl des Sündenbocks nicht zufällig. Noch immer fällt es den Menschen nicht schwer, alles «Fremde» leichtfertig zu verteufeln – und eine Krankheit ist immer wieder ein praktisches Alibi.

Duncan McLean