Sechs Gründe für unsere Such- und Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer

27. Januar 2018, Mittelmeer.

Libyen9 Min.

Unser Such- und Rettungsschiff «Ocean Viking» ist auf dem Mittelmeer unterwegs, da die europäischen Staaten ihren grundlegenden rechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Sie gewähren den hilfsbedürftigen Menschen, die aus Nordafrika Richtung Europa fliehen, keinen Schutz. Das Mittelmeer ist weltweit zur tödlichsten Fluchtroute geworden. Ärzte ohne Grenzen betreibt Seenotrettung, da Menschen auf dem Meer sterben.

Wir wissen, dass unser Entscheid mit einer in Europa äusserst kontrovers geführten politischen Debatte zusammenfällt. Einer unserer zentralen Werte ist jedoch die Unparteilichkeit: Wir helfen Menschen unabhängig von Herkunft, religiöser oder politischer Überzeugung. Dieses Prinzip gilt für uns überall, in all unseren Einsatzgebieten. 

Derzeit sterben unzählige Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer und die politischen Entscheidungsträger sehen dieser Krise untätig zu. Als humanitäre Organisation müssen wir auf dieser Krise reagieren und entsprechend handeln.

Im Folgenden möchten wir sechs Gründe angeben, warum diese Krise uns alle etwas angeht und warum wir es als unsere Pflicht ansehen, Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer durchzuführen.
 

27. Januar 2018, Mittelmeer.

Schwierige Rettung von der Treppe der Aquarius, 27. Januar 2018.

© Laurin Schmid/SOS MEDITERRANEE

1) Auch im Jahr 2019 ertrinken noch immer Menschen im Mittelmeer

Viele Menschen flüchten aus Libyen, mit guten Gründen. Allein in den ersten sechs Monaten haben Schätzungen zufolge 9576 Menschen versucht, das Mittelmeer auf prekären Booten zu überqueren. Mehr als 576 Männer, Frauen und Kinder sind laut dem Missing Migrants Project bei dieser verzweifelten Überfahrt gestorben.

Auch ist das Risiko, bei der Überfahrt zu sterben, im Vergleich zum Vorjahr markant gestiegen. Mit 6 % (im Vergleich zu 3,2 % im Vorjahr) stirbt bei der Überfahrt mehr als eine von 20 Personen. Man schätzt, dass seit 2014 mehr als 15 000 Menschen bei der Überfahrt gestorben sind.

Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, eines ist sicher: Die Krise ist noch nicht vorbei.

Tajoura, Libyen, 03.07.2019

Das Internierungslager Tajoura nach dem Luftangriff vom 3. Juli 2019.

© Hazem Ahmed/AP

2) Die Rückschaffung von Menschen nach Libyen ist gefährlich und unmenschlich

Der bewaffnete Konflikt in Tripolis, der Hauptstadt Libyens, hat an Intensität zugenommen. Inmitten dieses Konflikts werden mehrere Tausend Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten willkürlich unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Internierungslagern festgehalten. Diese befinden sich teilweise unmittelbar an der Frontlinie. So traf Anfang Juli ein Luftangriff das Internierungslager Tajoura in Tripolis. Mindestens 53 Menschen starben, 70 wurden verletzt.

Ärzte ohne Grenzen wurde Zeuge der unmenschlichen Zustände in den Internierungslagern. Die Organisation kümmert sich um die medizinische Versorgung der Internierten. Krankheiten wie Tuberkulose sind weit verbreitet, ebenso psychische Erkrankungen. Der Zugang zu Nahrung und Wasser ist eingeschränkt. Ein Drittel der kürzlich aus einem Lager evakuierten Personen waren Kinder.

Angesichts dieser katastrophalen Situation ist es kein Wunder, dass die Menschen versuchen, aus Libyen zu flüchten. Das internationale Seerecht schreibt vor, auf dem Meer gerettete Menschen in den nächstgelegenen sicheren Hafen zu bringen. Es ist offensichtlich, dass Libyen kein sicheres Land für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten ist – diese Einschätzung teilen auch die Vereinten Nationen.  

Trotz alledem fahren die europäischen Regierungen mit ihrer Abschreckungspolitik fort und schaffen hilfsbedürftige Personen nach Libyen zurück.

11. August 2018, Mittelmeer.

Rettungseinsatz am 11. August 2018. Das Boot ohne Motor trieb 35 Stunden auf dem Meer dahin.

© SOS MEDITERRANEE

3) Es braucht für Such- und Rettungseinsätze ausgestattete Schiffe

Das internationale Recht verpflichtet alle Schiffe, in Seenot geratene Boote in ihrer Nähe zu helfen. Viele private und Handelsschiffe in den internationalen Gewässern des zentralen Mittelmeers sind nicht in der Lage, in kritischen Situationen genügend schnell Hilfe zu leisten.

Aus diesem Grund führen wir mit SOS Méditerranée Rettungseinsätze durch: Wir können dann reagieren, wenn sich eine humanitäre Notsituation anbahnt.

Unser neues Schiff, die «Ocean Viking», wurde 1986 spezifisch für die Seenotrettung ausgebaut. Es ist schnell und einfach zu manövrieren und hat vier schnelle Rettungsboote. Es verfügt über eine medizinische Klinik, Triage- und Warteräume.

Seit dem Beginn unseres Einsatzes auf dem zentralen Mittelmeer und in der Ägäis im Frühling 2015 konnten wir über 60 000 Menschen retten und 20 000 weitere auf andere zivile und staatliche Schiffe transferieren. Mit der Aquarius, eines unserer insgesamt fünf Rettungsschiffe, konnten wir allein zwischen 2016 und 2018 fast 30 000 Menschen retten.

12. Juli 2019.

Luftaufnahme der Ocean Viking im Hafen von Marseille am 12. Juli 2019, vor ihrem ersten Einsatz im zentralen Mittelmeer.

© Kevin McElvaney/SOS MEDITERRANEE

4) Es gab noch nie so wenige Such- und Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer wie heute

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die auf dem Mittelmeer Such- und Rettungseinsätze durchführen, werden behindert und sogar kriminalisiert. Im Dezember 2018 mussten wir unseren Einsatz mit der Aquarius aufgrund einer massiven Hetzkampagne der italienischen Regierung einstellen. Erst kürzlich, im Juni 2019, wurde Carola Rackete, die Kapitänin des deutschen Rettungsschiffes Sea-Watch 3, verhaftet, da sie 42 Überlebende in einen sizilianischen Hafen gebracht hatte. Dies, nachdem sie zwei Wochen auf dem Meer ausgeharrt und vergeblich mit den Behörden verhandelt hatte.

Es ist beunruhigend zu sehen, dass im vergangenen Jahr die sicheren Häfen für Schiffe, die gerettete Menschen transportierten, geschlossen wurden und sich die politischen Rahmenbedingungen in Europa zunehmend verschlechtern. Alle Schiffe, ob es sich nun um private, Handels- oder spezifische Such- und Rettungsschiffe handelt, werden aktiv abgeschreckt, ihrer rechtlichen Verpflichtung, Booten in Seenot zu helfen, nachzukommen. Gleichzeitig unterstützen die europäischen Regierungen die libysche Küstenwache in finanzieller und technischer Hinsicht, damit diese die Geflüchteten abfangen und mit Gewalt nach Libyen zurückbringen kann.

Im August und September letzten Jahres stellten wir fest, dass die Standortinformationen der Boote in Seenot nicht mehr an die verbliebenen Such- und Rettungsschiffe weitergeleitet werden.

Die libyschen Behörden antworteten nicht auf entsprechende Anfragen betreffend Booten in Seenot, die sich in ihrer Nähe befanden, oder sie weigerten sich, diese Informationen mit anderen Schiffen, die Hilfe hätten leisten können, zu teilen.

23. September 2018, Mittelmeer

Fünf Jahre nach der Tragödie von Lampedusa und der Erklärung europäischer Politiker, dass so etwas «nie wieder» geschehen dürfe, riskieren Menschen weiter ihr Leben, um aus Libyen zu fliehen.

© Maud Veith / SOS Méditerranée

5) Die Such- und Rettungsschiffe sind keine «Pullfaktoren» für Migrantinnen und Migranten

Die Präsenz von Such- und Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer wird von den Gegnern dahingehend kritisiert, dass diese für Migrantinnen und Migranten einen «Anziehungseffekt» haben oder einen «Pullfaktor» darstellen würden. Einige haben Ärzte ohne Grenzen vorgeworfen, einen «Fährdienst» anzubieten, oder uns sogar als Menschenschmuggler bezeichnet.

Diese Vorwürfe treffen auf keinen Fall zu. Die Fakten sind klar: Die verzweifelten Menschen werden auch weiterhin aus Libyen fliehen, unabhängig davon, ob es Such- und Rettungsschiffe gibt oder nicht.

Dies zeigt die Tatsache, dass, obwohl noch nie so wenig Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer unterwegs waren wie heute, immer mehr Menschen aus Libyen fliehen. Ungefähr 9576 Menschen haben allein die ersten sechs Monate dieses Jahres die Überfahrt auf provisorischen Booten gewagt, 70 % davon im Mai und im Juni.

Die Faktoren, die am meisten Gewicht haben, sind keine «Pull»- sondern «Pushfaktoren». Vielen Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten bleibt aufgrund von Gewalt, Erpressungen, willkürlicher Inhaftierung und einem allgemeinen Gefühl der Hoffnungslosigkeit keine andere Wahl, als zu flüchten. Sie sehen keinen anderen Ausweg, als die gefährliche Reise Richtung Europa auf sich zu nehmen, unabhängig von den damit verbundenen Gefahren.

Es geht hier nicht darum, ein Europa ohne Grenzen, den freien Verkehr von Personen oder die Aufhebung von Grenzkontrollen zu fordern. Es geht um etwas anderes: Das Recht der Menschen auf einen Fluchtweg.

Niemand sollte beim Versuch sterben, sich in Sicherheit zu bringen. 

20. Juli 2019.

Die Ocean Viking, das neue Such- und Rettungsschiff auf dem Mittelmeer, gechartert von MSF und SOS Méditerranée.

© Anthony Jean/SOS MEDITERRANEE

6) Menschen sterben und die EU schaut zu

Die humanitäre Krise auf dem Mittelmeer und in Libyen erscheint uns im Alltag möglicherweise weit entfernt. Die europäische Union ist jedoch mitverantwortlich für diese Krise.

Die europäischen Regierungen betreiben eine tödliche Politik, mit dem Ziel, Tausende von hilfsbedürftigen Menschen um jeden Preis abzuschrecken und in Libyen zurückzuhalten.

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 haben die europäischen Regierungen die Seenotrettungsaktivitäten aktiv behindert und kriminalisiert. Gleichzeitig finanzierten sie die libysche Küstenwache, die mehr als 3685 Menschen mit Gewalt stoppten und zurück nach Libyen brachten.

Diese Politik führt zum Tod von Tausenden von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer und in Libyen, während diejenigen, die überleben, in einem Teufelskreis von Gewalt und Misshandlung gefangen sind.

Die europäischen Regierungen müssen dieser verhängnisvollen Politik ein Ende setzen und die Such- und Rettungsaktivitäten für Menschen auf der Flucht unterstützen.

Solange die Menschen, die aus Libyen zu fliehen versuchen, auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, und solange die europäischen Regierungen ihrer Verantwortung nicht nachkommen, werden wir, um Menschenleben zu retten, unsere Such- und Rettungsaktivitäten im Mittelmeer fortsetzen.