Masern in Afghanistan: Tödliche Gefahr für mangelernährte Kinder

Saed Bibi gibt ihrem Sohn Saddiqulah ein Glas Milch

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Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) hat im Februar 2022 in den Projektgebieten Helmand und Herat in Afghanistan mehr als 1400 Kinder wegen Masern behandelt. Bei der Hälfte von ihnen traten Komplikationen auf, die einen Spitalaufenthalt erforderlich machten. Eine besorgniserregende Situation, denn viele Kinder in diesen Regionen leiden auch an akuter Mangelernährung.

Zainab hat eine schwere Nacht hinter sich. Maschinen piepen, Lämpchen flackern. Ihr einjähriger Sohn Takberullah liegt neben ihr. Er ist unruhig, das Atmen fällt ihm schwer. Liebevoll umklammert sie sein eiskaltes Füsschen und deckt ihn immer wieder zu. Für Mutter und Sohn ist es der dritte Tag auf der Kinder-Intensivstation des Boost-Spitals in Lashkar Gah, Provinz Helmand. Ärzte ohne Grenzen unterstützt das Spital.

Vor zehn Tagen bekam Takberullah plötzlich Fieber, Durchfall und einen seltsamen Ausschlag. Seine Schwestern hatten ähnliche Symptome, aber dem Kleinen ging es so schlecht, dass Zainab ihn ins Spital brachte. Diagnose: Masern. Dazu kam eine schwere Lungenentzündung, die lebensbedrohlich sein kann.

Das Team von Ärzte ohne Grenzen verabreicht Takberullah Sauerstoff, Antibiotika und Glukose. Takberullah ist eines von über 1400 Kindern, die Ärzte ohne Grenzen im Februar in den Projektgebieten Helmand und Herat wegen Masern behandelt hat.

Viele Kranke, kaum Betten

Von Dezember bis Ende Februar kamen jede Woche rund 150 an Masern erkrankte Kinder ins MSF-Spital in Boost. Rund 40 Prozent von ihnen litten zusätzlich an einer Lungenentzündung oder anderen schweren Komplikationen.

In Herat gab es im Februar etwa 800 Masernfälle. Das Spital war ursprünglich mit nur acht Isolierbetten für Patient:innen mit Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Masern ausgestattet. Aufgrund der vielen Masernfälle kamen bald zwölf Betten hinzu. Zurzeit wird eine Masernstation mit 60 Betten eingerichtet. Schwerkranke können hier intensivmedizinisch versorgt werden und sich in Ruhe erholen.

Masern und Mangelernährung – ein tödliches Duo

Afghanistan kämpft seit längerem mit einer Ernährungskrise. Deshalb ist der Anstieg von Masern jetzt besonders besorgniserregend. Viele Kinder, die in den Ernährungszentren von Ärzte ohne Grenzen in Helmand und Herat behandelt werden, müssen sich ein Bett teilen.
«Die meisten Kinder, die zu uns kommen, haben sich kürzlich mit Masern angesteckt», berichtet Fazal Hai Ziarmal, medizinischer Leiter von Ärzte ohne Grenzen im Spital in Boost. «Die Krankheit schädigt das Immunsystem der Kinder. So können sie zum Beispiel begleitende Lungenentzündungen schwerer bekämpfen. In Afghanistan sterben derzeit viele Kinder – nicht direkt an Masern, sondern an den Komplikationen.»

Ein an Masern erkranktes Kind im Boost-Spital in Lashkar Gah, Afghanistan.

Ein an Masern erkranktes Kind im Boost-Spital in Lashkar Gah. Afghanistan. 24.02.2022

© Tom Casey/MSF

Zugang zu medizinischen Leistungen schwierig

Eine Impfung schützt vor Masern. Doch in Afghanistan ist die Durchimpfungsrate sehr niedrig. Das erklärt den schnellen Anstieg der Fälle. Zudem leben oft mehrere Familien in einem Haushalt. Auch das fördert die Ausbreitung der Krankheit. Einige Kinder erholen sich selbstständig von der Krankheit, andere benötigen Medikamente. Doch in vielen Gesundheitseinrichtungen sind die Medikamente knapp.

Han Bibi wartet auf der Masernstation des Spitals in Boost auf ihren Sohn. Die besorgte Grossmutter erzählt: «Meine zwölf Enkelkinder sind alle krank. Drei von ihnen hat es besonders schwer erwischt. In unserem Dorf haben wir ihnen Medikamente besorgt. Doch danach ging es nicht besser, also haben wir die Kinder hierher ins Spital gebracht. Die Älteste weinte ununterbrochen. Ihr war schlecht und sie hatte Schmerzen in der Brust. Zum Glück trinkt sie genug Wasser – aber alles andere spuckt sie aus.»

Gesundheitssystem stark strapaziert

«In unserem Einsatzgebiet in Herat sterben jeden Tag zwei Kinder an den Komplikationen von Masernerkrankungen», berichtet Sarah Vuylsteke, die Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen. «In anderen, schlechter versorgten Landesteilen sind die Zahlen mit Sicherheit viel höher. Masernpatient:innen mit leichten Komplikationen können in regionalen Spitälern meist gut behandelt werden. Bei schweren Fällen oder Komplikationen fehlt es in der Regel an medizinischem Material und Personal.»

Für besonders gefährdete Kinder kommt die Hilfe oft zu spät.

Sarah Vuylsteke, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen

«Natürlich kann Ärzte ohne Grenzen die Bettenzahl erhöhen», so Vuylsteke weiter. «Es braucht aber auch eine breit angelegte Impfkampagne. Ansonsten werden die Fälle in den nächsten Monaten weiter zunehmen. Das bereits geschwächte Gesundheitssystem würde dadurch noch stärker strapaziert. Kinder sollten routinemässig gegen Masern geimpft werden – und nicht nur akut bei einem Ausbruch.»

In der Stadt Kundus eröffnete Ärzte ohne Grenzen am 27. Februar im Regionalspital eine neue Masernstation mit 35 Betten und stellte Personal und Ausrüstung zur Verfügung. Bereits am nächsten Morgen war die Station mehr als ausgelastet.

Takberullah ist wieder gesund. Seine Mama Zainab durfte ihn mit nach Hause nehmen, wo ihre anderen Kinder auf sie warten. In Takberullahs Spitalbett liegt jetzt ein neuer kleiner Patient. Die Pflegefachkräfte von Ärzte ohne Grenzen kämpfen um sein Leben und tun alles dafür, dass es auch ihm bald besser geht.