Ärzt:in berichtet aus Afghanistan: «Unser Spital ist voll belegt»

Un patient et un anesthésiste face à face

Afghanistan5 Min.

Nach dem raschen Machtwechsel in Afghanistan hat sich die Situation im Gesundheitswesen stark verändert. Wir sind weiterhin in fünf Provinzen aktiv. Ein:e Ärzt:in, die in Lashkar Gah arbeitet, berichtet wie sie/er die jüngsten Veränderungen erlebt hat und wie sich diese auf Patient:innen und Gesundheitspersonal gleichermassen auswirken. Unser:e Mitarbeiter:in bleibt hier anonym.

 

Die Lage in Lashkar Gah hat sich zwar beruhigt, doch es herrscht nach wie vor eine gewisse Unruhe und Unsicherheit. Die Menschen, die während der Kämpfe keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen konnten, kommen nun in das Spital der Provinz Boost, das wir unterstützen. Infolgedessen war die Notaufnahme in den vergangenen Tagen überfüllt: Menschen mit Atemwegs- und Magen-Darm-Erkrankungen, Verletzungen durch Verkehrsunfälle und Menschen, die infolge der Kämpfe traumatisiert sind. Ein:e Ärzt:in berichtet von vor Ort:

Am 1. August kam ich in das Provinzspital Boost in Lashkar Gah. Der medizinische Bedarf war sehr hoch: Wir sahen viele Patient:innen, die bei den Kämpfen verwundet wurden. Normalerweise behandeln wir hier kranke Kinder, Schwangere oder Menschen, die eine routinemässige chirurgische Behandlung benötigen, im Durchschnitt etwa 500 Personen pro Tag - diese Patient:innen blieben aus, da durch die Kämpfe der Zugang zum Spital zeitweise versperrt war. 

Wir kamen in dieser Zeit kaum zur Ruhe: Da es draussen zu gefährlich war, blieben wir im Spital. Wenn Patient:innen eintrafen, standen wir auf und eilten zur Notaufnahme.  

Nach dem Ende der Kämpfe am 13. August hörte zumindest der Lärm von Luftangriffen, Raketen und Mörsern auf. Die Strassen in der Stadt und in den umliegenden Bezirken sind wieder offen und die Menschen können wieder zu uns ins Spital gelangen.  

Das System ist überlastet

Seither hat die Zahl der Patient:innen enorm zugenommen. Wir nehmen jetzt täglich mehr als 700 Patient:innen in unserer Notaufnahme auf. Am 21. August haben wir sogar 862 Menschen in unserer Notaufnahme behandelt - so viele wie noch nie.  

Einige Patient:innen kommen in sehr kritischem Zustand bei uns an, weil sie warten mussten, bis die Kämpfe beendet sind, um sich auf den Weg ins Spital zu machen.  

Ein Grund für die grosse Zahl an Patient:innen ist, dass die örtliche Kliniken nicht mehr funktionieren. Wir schicken täglich etwa 200 sogenannte „Grüne Fälle“ - weniger kritische Patient:innen - in diese Kliniken, aber viele kommen zurück und berichten, dass die Gesundheitseinrichtungen nicht über die benötigten Medikamente verfügen oder dass sie wegen Personalmangels geschlossen sind.

MSF-Chirurg, Dr. Mohammad Gul, vor der Entfernung eines Nierensteins bei Esa, 63, in der OP-Abteilung des Boost-Spitals in Lashkar Gah, Provinz Helmand, Afghanistan

MSF-Chirurg, Dr. Mohammad Gul, vor der Entfernung eines Nierensteins bei Esa, 63, in der OP-Abteilung des Boost-Spitals in Lashkar Gah, Provinz Helmand, Afghanistan. 02. Mai 2021.

© Tom Casey/MSF

Zwei Patient:innen pro Bett 

Unser Spital bietet Platz für 300 stationäre Patient:innen und ist aktuell an der Kapazitätsgrenze. Wir behandeln mehr Menschen als wir Betten haben. Und je mehr wir in der Notaufnahme aufnehmen, desto grösser wird das Problem. Viele warten sehr lange, während wir versuchen, einen Platz für sie zu finden. Auf der Kinderstation kommen zwei Patient:innen auf ein Bett, aber wir haben immer noch Probleme alle unterzubringen.  
Jeden Tag kommen 80 bis 100 schwer Kranke neu dazu. Sodass wir gezwungen sind, andere, weniger kritische Patient:innen zu entlassen, um Platz zu schaffen.  

Das ist eine der grossen Herausforderungen im Moment. Ich weiss nicht, wie wir das langfristig lösen können, aber im Moment verkürzen wir die Aufenthaltsdauer so weit wie möglich und entlassen Patient:innen mit den benötigten Medikamenten.

Wir bleiben

MSF activities 2020 Afghanistan

Ärzte ohne Grenzen ist in Afghanistan aktuell in den Provinzen Herat, Kandahar, Chost und Lashkar Gah aktiv.

Trotz der Herausforderungen, die durch die aktuellen Ereignisse für unsere Arbeit entstehen, sind wir entschlossen, unsere medizinischen Aktivitäten fortzusetzen und den gesundheitlichen Bedürfnisse der Menschen gerecht zu werden.

Herat 

In Herat bieten wir in der Kahdestan-Klinik ambulante Pflege, Behandlung von nicht übertragbaren Krankheiten sowie Beratung und Behandlungen im Bereich sexuelle Gesundheit und Familienplanung an. Die Zahl der Patient:innen hat zugenommen, da andere Kliniken in der Gegend ihre Tätigkeit eingestellt haben. Ausserdem nehmen wir im Regionalspital von Herat zunehmend mehr mangelernährte Kinder auf. 

Kandahar 

In Kandahar setzen wir die Versorgung von Menschen, die an Tuberkulose erkrankt sind, fort. Unsere provisorische Klinik für medizinische Grundversorgung im Haji-Camp haben wir geschlossen, da das Camp mittlerweile leer ist. 

Chost 

In Chost betrieben wir eine grosse Entbindungsklinik, in der wir uns bisher auf die Behandlung komplizierter Fälle konzentriert haben. Da Verkehrswege und viele Privatkliniken nicht voll funktionsfähig sind, haben wir hier die Aufnahmekriterien erweitert, um eine sichere Versorgung von Müttern und Neugeborenen zu gewährleisten.  

Kundus 

In Kundus konnten wir in das neue Traumazentrum zurückkehren, nachdem wir uns aufgrund der Kämpfe provisorisch in unseren Büroräumen eingerichtet hatten. Wir behandeln hier vornehmlich Menschen, die in Verkehrsunfällen und während der Kämpfe verletzt wurden und in deren Behandlung es zu Komplikationen kam.