Afghanistan: Nothilfe vor Ort

Ein Arzt mit einer rosafarbenen OP-Haube.

Afghanistan6 Min.

Trotz der enorm herausfordernden Situation für unsere 2400 Mitarbeiter*innen in Afghanistan führen wir die medizinische Hilfe in den fünf Regionen Herat, Kadarhar, Khost, Kundus und Lashkar Gah aktuell weiter und sind für unsere Patient*innen im Einsatz. Zuletzt stieg die Zahl der Patient*innen in unseren Spitälern und Kliniken wieder an. Vielerorts haben sich die Kampfhandlungen etwas beruhigt. Verletzte und kranke Menschen, die während der Kämpfe nicht ins Spital kommen konnten, suchen jetzt medizinische Hilfe. Unter den Patient*innen sind nach wie vor viele Kriegsverletzte.

Dass wir unsere Arbeit in Afghanistan weiterführen können, während sich andere zurückziehen, liegt vor allem an unseren humanitären Prinzipien: Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.

Unsere Teams orientieren sich rein am medizinischen Bedarf. Wir würden niemals eine*n Patient*in abweisen, sei es ein verwunderter Regierungssoldat, ein Taliban-Kämpfer, eine schwangere Frau, ein Autounfallopfer. Wir arbeiten nach medizinischer Ethik, nicht danach, wer als Kriminelle*r, Terrorist*in, Soldat*in oder Politiker*in gilt. Nur so können wir überhaupt in Konflikten arbeiten.

Laura Leyser, Geschäftsführerin Ärzte ohne Grenzen Österreich

Das bedeutet auch, dass wir wo immer möglich mit allen Konfliktparteien sprechen, Gelder von Regierungen verweigern und nur private Spenden annehmen, uns klar identifizieren, um nicht mit anderen Gruppen verwechselt zu werden, und unsere Spitäler zu waffenfreien Zonen machen. Wer auch immer in eine unserer Kliniken oder ein Spital von Ärzte ohne Grenzen kommt, muss die Waffe an der Tür lassen.

Gewalt wurde immer extremer

Seit Mai kämpften die afghanische Armee und die Taliban vermehrt um und in den Provinzhauptstädten. Die Gewalt breitete sich zuletzt im ganzen Land aus. Unsere Teams leisteten Nothilfe inmitten der Kämpfe. 

Die Zahl der durch Kugeln und Explosionen Getöteten und Verwundeten stieg täglich. Gleichzeitig mussten immer mehr Menschen ihre Häuser verlassen. Zugang zu medizinischer Versorgung ist nach wie vor für grosse Teile der Bevölkerung schwer oder gar nicht möglich. 

In drei Gebieten, in denen unsere Teams tätig sind, in Lashkar Gah und Kandahar im Süden sowie in Kundus im Norden des Landes fanden sehr brutale Kämpfe statt und die Folgen waren besonders deutlich zu spüren. Aber auch um die Stadt Herat, in der sich ebenfalls ein Projekt von Ärzte ohne Grenzen befindet, sah man das Ausmass der Gewalt.

Medizinische Einrichtungen an der Front

«Die Lage im Land hat sich so weit verschlechtert, dass in einigen Städten medizinische Einrichtungen mitten im Kampfgebiet liegen», erklärte Laura Bourjolly, humanitäre Beraterin bei Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan. «Unsere Mitarbeiter*innen behandeln weiterhin Patient*innen in allen unseren Projekten, und das unter schwierigsten Bedingungen. Wir haben unsere medizinischen Aktivitäten angepasst, um auf die akuten Bedürfnisse zu reagieren.»

Ein Arzt sieht sich die Röntgenaufnahmen eines Patienten an

Notaufnahme der Traumaabteilung von Ärzte ohne Grenzen in Kundus. Ein Arzt sieht sich die Röntgenaufnahmen eines Patienten an, der durch eine Bombenexplosion einen komplizierten Beinbruch erlitten hat. 3. Juli 2021.

© Stig Walravens / MSF

Arbeiten unter extremen Bedingungen

In Lashkar Gah, wo unsere Teams das Boost-Spital unterstützen, fanden besonders heftige Kämpfe statt. Am 9. August explodierte eine Rakete auf dem Gelände des Spitals, ganz in der Nähe der Notaufnahme. Glücklicherweise wurde niemand verletzt.

Der Lärm der Kämpfe, der von der Strasse ins Spital gelangt, war erschütternd. Unsere Teams behandelten Patient*innen, während in unmittelbarer Nähe Granaten-, Raketen- und Luftangriffe stattfinden. Die zusätzlichen Belastungen, denen sowohl Patient*innen als das Personal ausgesetzt sind, waren enorm. Trotz der sich verschlechternden Situation konnten alle Abteilungen des Spitals offen gehalten werden.

In der ersten Augustwoche kamen so viele Kriegsverletzte in unser Spital, dass an einem Tag bis zu 20 Operationen durchgeführt wurden. 

Lebensgefährlicher Weg ins Spital

In einem Land mit einem schlecht funktionierenden Gesundheitssystem wird der Zugang der Menschen zur medizinischen Versorgung durch die Gewalt erheblich erschwert.

Wegen der schweren Kämpfe konnten viele Menschen ihre Häuser nicht verlassen, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Viele von ihnen kamen erst, wenn ihr Zustand kritisch war.

Wir sahen, dass die Zahl der Patient*innen in unseren Notaufnahmen, im COVID-19-Behandlungszentrum oder in unseren Ambulanzen abnimmt, wenn die Gewalt zunimmt.

«Wir hatten nur eine schwangere Frau im Krankenhaus», erklärte Sarah Leahy, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in der Provinz Helmand, «Aber am nächsten Tag, nachdem die Kämpfe etwas nachgelassen hatten, kamen zehn schwangere Frauen zu uns. Wir sind sehr besorgt darüber, dass die Frauen zu Hause entbinden müssen und bei Komplikationen keine medizinische Hilfe bekommen.»

Ein Arzt beugt sich über das Bett eines Patienten.

Der am Bein verletzte Patient wird auf der Notaufnahme der Traumatologieabteilung von Ärzte ohne Grenzen in Kundus von einem Arzt untersucht. 9. August 2020.

© Stig Walravens / MSF

Hunderttausende mussten Häuser verlassen

Der gewaltsame Konflikt hat bereits Hunderttausende Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Einige haben sich in städtischen Gebieten in Sicherheit gebracht und leben in informellen Siedlungen, die kaum Zugang zu grundlegenden Dingen wie Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung bieten.

Im Juli eröffnete Ärzte ohne Grenzen in Kundus eine kleine Klinik in Sar Dawra, die ambulante Behandlungen für vertriebene Frauen und Kinder anbietet und Trinkwasser verteilt. In der Klinik wurden täglich rund 300 Patient*innen behandelt. Anfang August übergaben wir die Aktivitäten an eine andere Organisation, damit sich unsere Teams auf die Traumabehandlung konzentrieren können.

In der Stadt Kandahar richteten wir eine provisorische Klinik für die medizinische Versorgung von Kindern unter fünf Jahren im Haji-Lager ein, einer informellen Siedlung, in der derzeit rund 500 Vertriebene leben. Auch den Zugang zu Trinkwasser und Sanitäranalgen haben unsere Teams sichergestellt. Die meisten Kinder werden wegen Atemwegserkrankungen, Durchfall oder Anämien behandelt. 

Medizinische Einrichtungen dürfen keine Ziele sein

Welcher Zukunft Afghanistan entgegenblickt, ist momentan schwer zu sagen. Wir sind vor Ort, behandeln Patient*innen und passen unsere medizinische Hilfe an den jeweiligen Bedarf an.

Für die Menschen in Afghanistan und auch das medizinische Personal vor Ort gab es in den letzten Monaten kaum eine ruhige Minute. Gerade jetzt ist es wichtig, dass Spitäler den Betrieb aufrecht erhalten können.

Wie wir bei dem Angriff in Lashkar Gah gesehen haben, ist die Gefahr am falschen Ort zu sein, leider allgegenwärtig. Medizinische Einrichtungen müssen daher respektiert werden und dürfen nicht als Zielscheiben missbraucht werden.