Das Leiden von Syriens Nierenpatienten

Syrien, September 2019

Syrien4 Min.

Mohammed Al Youssef ist ein syrischer Arzt, der sich mit Leib und Seele für seine Patientinnen und Patienten einsetzt. Seit fünf Jahren arbeitet er für Ärzte ohne Grenzen/ Médecins Sans Frontières (MSF) und ermöglicht Menschen mit einer Nierentransplantation den Zugang zu lebensnotwendigen Behandlungen.

«Vor zehn Jahren drehte sich der Spiess um: Ich befand mich nicht mehr in der Rolle des Arztes, sondern war selber Patient. Meine Nierentransplantation erwies sich nicht nur als Wendepunkt in meinem Leben, sondern auch in meiner Karriere. Obwohl ich eine Ausbildung zum Facharzt für Endokrinologie gemacht habe, habe ich mich bisher vor allem auf die Behandlung von Menschen mit Diabetes konzentriert. Die Transplantation und der Krieg, der zwei Jahre später in meinem Land ausbrach, haben mich dazu bewogen, mich auf die Endokrinologie zu spezialisieren. Heute bin ich einer der wenigen Ärzte in Nordsyrien, die Menschen mit Nierentransplantationen behandeln.

Bevor der Krieg in Syrien ausbrach, war die Behandlung dieser Patienten gewährleistet. Sie wurden in öffentlichen Spitälern oder Gesundheitszentren behandelt und erhielten kostenlosen Zugriff zu Dialysen und Medikamenten. Dies änderte sich jedoch 2011.

Syrien, September 2019

2011 änderte sich alles: Auf den Strassen wurden überall Kontrollpunkte errichtet. Dies hatte zur Folge, dass die Menschen ihr Dorf oder ihre Stadt nicht mehr verlassen konnten und der Zugang zu medizinischen Behandlungen zunehmend eingeschränkt wurde.

© Lucille Favre/MSF

In diesem Jahr wurden auf den Strassen überall Kontrollpunkte errichtet. Dies hatte zur Folge, dass die Menschen ihr Dorf oder ihre Stadt nicht mehr verlassen konnten und der Zugang zu medizinischen Behandlungen zunehmend eingeschränkt wurde. Je nachdem, woher man kam, riskierte man beim Passieren von Kontrollpunkten eine Gefängnisstrafe oder gar das eigene Leben. Ob man krank war, spielte keine Rolle.

Diejenigen, von denen ich wusste, dass sie eine Nierentransplantation erhalten hatten, kauften sich schliesslich die Medikamente selbst oder baten ihre Verwandten, sie aus dem Ausland nach Syrien zu schicken. Sie konnten ohne Medikamente nicht überleben. Um eine Abstossung der transplantierten Niere zu vermeiden, müssen Patienten ihr Leben lang Immunsuppressiva einnehmen. Falls diese Medikamente abgesetzt werden, erleben Patienten Nierenversagen und sind als Folge davon auf Dialysen angewiesen. Dies bringt einige Schwierigkeiten mit sich: Erstens ist die Handhabung von Dialysen weniger praktisch und zweitens sind sie viel kostspieliger als Immunsuppressiva. Dialysen kosten monatlich ca. 450 - 500 CHF pro Person. Im Vergleich dazu kostet die Behandlung mit Immunsuppressiva in der Regel monatlich nicht mehr als 150 - 200 CHF pro Person. In Syrien übersteigt dies jedoch sogar den durchschnittlichen Monatslohn und viele können sich eine Behandlung schlichtweg nicht leisten.

Syrien, September 2019

2014 kontaktierte ich mit Hilfe der lokalen Gesundheitsbehörden Ärzte ohne Grenzen. Die Organisation willigte ein, diese Patientinnen und Patienten zu unterstützen und ihnen kostenlose Behandlungen anzubieten, um sie am Leben zu erhalten.

© Lucille Favre/MSF

Deshalb habe ich 2014 die lokalen Gesundheitsbehörden gebeten, mir den Kontakt zu Ärzte ohne Grenzen zu verschaffen, da die Organisation ein ähnliches Projekt im Gouvernement Homs durchführte. Ich erzählte Ärzte ohne Grenzen, dass ich 22 Menschen mit Nierentransplantationen kenne, die sich ihre Medikamente nicht leisten können und liess ihnen die entsprechenden Patientenakten zukommen. Die Organisation willigte ein, diese Menschen zu unterstützen und ihnen kostenlose Behandlungen anzubieten, um sie am Leben zu erhalten. Dies freute mich sehr. Ich wollte den Menschen moralisch beistehen und ihnen auch helfen, weil ich selbst eine Nierentransplantation hatte. Seit Anbeginn des Krieges bis zu jenem Moment wurden die Bedürfnisse dieser Menschen von den meisten humanitären Organisationen nicht beachtet.

Die Anzahl Menschen, die ich behandelte, wuchs in den nächsten Monaten und Jahren. Vor allem durch Mundpropaganda wurden mehr Menschen mit Nierentransplantationen auf das Projekt aufmerksam und nahmen Kontakt mit mir auf, um auch von den gespendeten Medikamenten zu profitieren. Dies zeigt, wie dringend diese Unterstützung nötig war. Anfangs hatte ich nur 22 Patienten behandelt, dann waren es 45, dann 73 und dann fast hundert. 2015 startete eine andere humanitäre Organisation im Gouvernement Aleppo ein identisches Projekt und bat mich um Hilfe. So teilte ich meine Zeit zwischen MSF und der anderen Organisation auf und beaufsichtigte die Behandlung hunderter Patienten im Norden Syriens. Einige meiner Patienten, die durch den Konflikt vertrieben wurden, kommen sogar aus anderen Teilen des Landes.

Syrien, September 2019

Ich werde nicht aufgeben, solange meine Patienten noch behandelt werden müssen. Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen und werde solange weitermachen, bis sie in Sicherheit sind.

© Lucille Favre/MSF

Die letzten fünf Jahre, in denen ich mich um diese Menschen gekümmert habe, haben mich verändert. Wenn über Syrien gesprochen wird, fallen oft Worte wie «Wunden» und «Trauma». Fast niemand spricht über Menschen, die eine Transplantation hinter sich haben und auf lebenslange Behandlungen angewiesen sind. Die Arbeit, die ich seit 2014 mache, hat mir viel Freude bereitet. Doch ehrlich gesagt, bin ich es auch leid, in dieser schwierigen Situation zu arbeiten oder überhaupt zu leben. Irgendwann wollte ich gar das Handtuch werfen, doch meine Patientinnen und Patienten gaben mich nicht auf. Sie sagten mir, dass ich weitermachen müsse, denn sie hätten niemanden sonst, auf den sie sich verlassen könnten.

Der Zustand in Idlib ist heute sehr schlecht und der Krieg ist noch lange nicht vorbei. Wie können nicht sagen, wie es morgen aussehen wird, denn die Situation verändert sich täglich. Was ich jedoch mit Sicherheit weiss, ist, dass ich nicht aufgeben werde, solange meine Patienten noch behandelt werden müssen. Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen und werde solange weitermachen, bis sie in Sicherheit sind. Diese Menschen interessieren sich nicht für den Krieg. Sie wollen nur ein normales Leben führen. Diese Behandlung ist der einzige Weg, dies zu ermöglichen und um ihr Überleben zu sichern.»