Syrien: «Während der Schlacht um Rakka kümmerte sich niemand um die Zivilbevölkerung»

Quand Raqqa a été reprise des mains du groupe Etat islamique (EI) à la mi-octobre, près de 1300 personnes venant de la ville sont arrivées dans le camp d’Ayn Issa où nous dispensons des soins médicaux.

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Die Leiterin der Notfalleinsätze von MSF Natalie Roberts schildert die Lage der Menschen, die die Stadt während der Rückeroberung verlassen konnten und in einem Lager für Vertriebene Zuflucht fanden.

Viereinhalb Monate dauerte die Offensive der «Demokratischen Kräfte Syriens» (Syrian Democratic Forces ¬SDF) und der internationalen Koalition, um Rakka vom Islamischen Staat (IS) zurückzuerobern. Das Ausmass der Verwüstung zeugt nicht nur von der Intensität der Kämpfe und Luftangriffe, sondern wirft auch Fragen nach dem Schicksal der verbliebenen Zivilbevölkerung auf. Als die Kämpfe ausbrachen, waren die Menschen in der Stadt gefangen, ohne Zugang zu humanitärer Hilfe. Ein Interview mit Natalie Roberts, Leiterin der Notfalleinsätze von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Paris.

Ging in einem Haus nachts das Licht an, wurde dieses zum Ziel von Mörsergranaten oder Luftangriffen.

Konnten die MSF-Teams den Menschen in Rakka vor Ort helfen?

Während der Offensive hatte MSF keinen Zugang zu den Menschen in Rakka. Genauso ging es allen anderen humanitären Organisationen. Während der gesamten Dauer der Kämpfe waren unsere Teams praktisch machtlos, wir konnten den in der Stadt gefangenen Menschen keinerlei Hilfe zukommen lassen. Unsere Arbeit beschränkte sich auf die Spitäler in Kobane, Tal Abjad und al-Hasaka sowie auf die Vertriebenenlager. Nachdem Rakka Mitte Oktober vom IS zurückerobert wurde, gelang es knapp 1‘300 Menschen, die Stadt zu verlassen und das Lager in Ain Issa aufzusuchen, wo MSF medizinische Nothilfe leistet. Die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder. Die wenigen Männer, die sie begleiteten, waren entweder älter oder waren während der Offensive verwundet und zunächst in Spitälern in Rakka behandelt worden, die unter der Kontrolle des Islamischen Staats standen.

Die Vertriebenen kamen in Begleitung der SDF. Sie berichteten uns jedoch, dass man ihnen bei ihrer Reise aus der Stadt zu einem der Checkpoints rund um Rakka nicht geholfen hatte. Fast die Hälfte von ihnen befindet sich nun auf einem Gelände ausserhalb des Vertriebenenlagers von Ain Issa. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, berichteten, wie massiv die Luftangriffe gewesen waren, welchen Schrecken sie verursacht hatten und wie sich ihre Lebensbedingungen zunehmend verschlechtert hatten. Sie schilderten uns beispielsweise, wie Menschen auf der Suche nach Wasser auf den Strassen verletzt wurden oder sogar starben. Ging in einem Haus nachts das Licht an, wurde dieses zum Ziel von Mörsergranaten oder Luftangriffen. Sie erzählten uns auch, dass mehr Männer mit ihnen entkommen konnten, dass diese jedoch von den SDF weggebracht wurden, höchstwahrscheinlich in ein Internierungslager. Wir wissen nicht, ob sie medizinische Hilfe benötigten oder erhalten haben.

Was wissen wir über die Zivilisten, die sich während der Offensive in Rakka aufhielten?

Als der IS im Jahr 2014 die Stadt übernahm, entschloss sich ein Teil der Einwohner, die Stadt zu verlassen. Sie gingen in die Türkei, nach Europa oder anderswohin. Andere entschieden sich dazu, zu bleiben. Sie konnten oder wollten ihr Zuhause nicht verlassen. Viele hatten gar keine Wahl, wie arme und ältere Menschen oder jene, die keine Kontakte ausserhalb hatten.
Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Zivilisten sich während der Offensive in der Stadt befanden, wie viele verletzt oder getötet wurden. Während der Kämpfe um Rakka kümmerte sich keiner um sie. Die Flucht war inzwischen extrem schwierig geworden. Es gab auch keine Krankenwagen mehr und so blieben den Verwundeten nur Militärfahrzeuge, um evakuiert zu werden. Damit lag es komplett im Ermessen der Soldaten, ob man gerettet wurde. Trotz der Intensität der Luftangriffe, welche zur totalen Zerstörung der Stadt führten, wurden nur sehr wenig verletzte Zivilisten aus der Kampfzone gebracht. Die wenigen Spitäler mit Notaufnahme und OP-Saal in der Region, die sich um Kriegsverletzte hätten kümmern können, waren nicht ausgelastet. In das Spital in Kobane, in das Verletzte überwiesen wurden, die orthopädische Behandlung benötigten, wurden im September lediglich drei Patenten eingeliefert.

Die SDF gab bekannt, dass in der letzten Woche der Kämpfe 3‘000 Zivilisten evakuiert wurden. Es ist allerdings unmöglich, diese Zahl zu überprüfen, genauso wenig wie die Behauptung eines SDF-Sprechers, dass zum Zeitpunkt des finalen Angriffs keine Zivilisten mehr in Rakka waren. Man wird wohl nie erfahren, wie viele Menschen bei der Offensive verletzt oder getötet wurden.