Weltfrauentag: Die gesundheitliche Selbstbestimmung der Frau

3 points de femmes levés vers le ciel

Demokratische Republik Kongo11 Min.

Wir alle möchten etwas für das eigene Wohlbefinden – also unsere seelische, körperliche und emotionale Gesundheit – tun können. Ohne zuverlässige Informationen, geeignete Instrumente und Optionen sowie eine angemessene Unterstützung ist dies jedoch nicht immer möglich.

Mit der gesundheitlichen Selbstversorgung, bei der Menschen das nötige Rüstzeug erhalten, um bei ihrer Behandlung eine zentrale Rolle einzunehmen, findet nun eine allmähliche Umwälzung der traditionellen Gesundheitsversorgung statt. Frauen können dadurch bei Gesundheitsentscheidungen an Eigenverantwortung gewinnen. Anlässlich des diesjährigen Weltfrauentags möchten wir Ihnen deshalb zeigen, wie die gesundheitliche Selbstversorgung in Krisenländern und dem Rest der Welt zur Förderung der Gesundheit und Emanzipation von Frauen und Mädchen beiträgt.

Was versteht man unter gesundheitlicher Selbstversorgung?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Selbstversorgung als die Fähigkeit von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften, die Gesundheit zu fördern, Krankheiten vorzubeugen, die Gesundheit zu erhalten sowie mit Erkrankungen und Behinderungen umzugehen, und zwar mit oder ohne Unterstützung eines Gesundheitsversorgers. 

Als medizinische und humanitäre Hilfsorganisation hat Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) beschlossen, die gesundheitliche Selbstversorgung im Rahmen eines patientenzentrierten Ansatzes einzusetzen − d. h. Menschen die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, damit diese sich gefahrenlos selbst versorgen können. Gleichzeitig wird aber der Zugang zur traditionellen medizinischen Versorgung bei Bedarf oder auf Wunsch aufrechterhalten.

Die gesundheitliche Selbstversorgung umfasst:

  • Selbstmanagement, z. B. bei Medikamenten, Behandlungen, Untersuchungen, Injektionen und Verabreichungen;
  • Selbsttests, einschliesslich Proben, Screenings, Diagnosen, Entnahmen und Nachsorge;
  • Selbstwahrnehmung, einschliesslich Selbsthilfe, Selbstbildung bzw. -erziehung, Selbstregulierung, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung. 

Bei der Selbstversorgung geht es nicht darum, Menschen zu zwingen, sich ohne Hilfe selbst zu behandeln, sondern sie zu befähigen, einen Teil der Gesundheitsmassnahmen selbst zu übernehmen, wenn sie dies wünschen.

Einfachere Testverfahren und Behandlungen, leicht zugängliche Versorgungsmöglichkeiten vor Ort und die Mobilfunktechnologie haben in den vergangenen Jahren allesamt zum Durchbruch der gesundheitlichen Selbstversorgung beigetragen, von der Frauen und Mädchen besonders stark profitieren können.

Ein Beispiel für Selbstversorgung sind HIV-Selbsttests.

Ein Beispiel für Selbstversorgung sind HIV-Selbsttests.

© Carrie Hawks/MSF

Warum ist die gesundheitliche Selbstversorgung vor allem für Frauen ein wichtiges Thema?

Weltweit haben noch immer unzählige Frauen keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung und grosse Schwierigkeiten, Behandlungen im Bereich der sexuellen oder reproduktiven Gesundheit, die häufig mit Stigmatisierung verbunden ist, zu erhalten.

Fast jede vierte Frau im gebärfähigen Alter hat immer noch keinen Zugang zu modernen Verhütungsmitteln, um ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden. Etwas mehr als die Hälfte aller HIV-Positiven über 15 Jahren sind Frauen. Global betrachtet sind unsachgemäss durchgeführte Abtreibungen nach wie vor eine der Haupttodesursachen bei Schwangeren, denen keine sicheren Optionen für einen Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung stehen.

Neben sozialen, wirtschaftlichen und logistischen Hürden verhindern manchmal auch Gewalt und Diskriminierung den Zugang zu medizinischer Versorgung. Ganz zu schweigen von humanitären Krisen oder der aktuellen Pandemie, die die Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung und insbesondere sexuelle und reproduktive Gesundheitsprobleme noch verschärfen. Die eigentlich zum Schutz der Menschen ergriffenen Lockdown-Massnahmen haben manche Frauen auch in Gefahr gebracht: Denn sie haben zusätzliche Hürden geschaffen, welche die Frauen davon abhalten, benötigte Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Laut den von der WHO 2019 veröffentlichten Richtlinien zur gesundheitlichen Selbstversorgung, die sich insbesondere auf sexuelle und reproduktive Gesundheit konzentrieren, könnte die Selbstversorgung dazu beitragen, diese Probleme zu lösen.

Wie trägt die gesundheitliche Selbstversorgung zur Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Gesundheit bei?

Durch die Selbstversorgung können selbst die entlegensten und politisch instabile Orte mit ungenügender Gesundheitsinfrastruktur Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten, und das ohne Spitäler, Kliniken oder medizinisches Fachpersonal. Sie kann eine pragmatische Lösung in Zeiten sein, in denen medizinische Ressourcen knapp sind, und eine medizinische Versorgung selbst dort sicherstellen, wo es vorher keine gab.

Durch den Einsatz der gesundheitlichen Selbstversorgung kann gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse und ohne grosses Risiko in einer Gemeinschaft oder direkt bei Personen zuhause diskret medizinische Hilfe geleistet werden (z. B. in Form eines selbst verabreichten Verhütungsmittels). Dank der Vertraulichkeit kann die Selbstversorgung auch zur Früherkennung und rechtzeitigen Behandlung von Krankheiten beitragen, wie z.B. beim HIV-Selbsttest.

Dadurch, dass die individuellen Bedürfnisse der Frauen berücksichtigt werden können, kann zudem die Qualität der angebotenen Leistungen optimiert und eine angemessene, respektvolle und vertrauensvolle Versorgung geboten werden.

Für manche Frauen ist die gesundheitliche Selbstversorgung unter Umständen die einzige Alternative zu einer andernfalls gefährlichen Behandlung oder sogar die einzige Option, die sie haben. Bei Schwangerschaftsabbrüchen kann die Selbstversorgung sogar Leben retten, wenn dadurch nämlich verhindert wird, dass Frauen eine riskante Abtreibung ohne medizinische Hilfe durchführen lassen.

Im Rahmen der Selbstversorgung werden auch «Gesundheitsbotschafterinnen» ausgebildet, die andere Frauen informieren und ihnen Rat geben können.

Im Rahmen der Selbstversorgung werden auch «Gesundheitsbotschafterinnen» ausgebildet, die andere Frauen informieren und ihnen Rat geben können.

© Carrie Hawks/MSF

Wie kann die gesundheitliche Selbstversorgung zur Emanzipation der Frauen beitragen?

Die Selbstversorgung gibt den Frauen Zugang zu Informationen und Dienstleistungen, mit deren Hilfe sie sich für die Behandlung entscheiden können, die sich am besten für sie eignet. Die Frauen haben die Entscheidungsgewalt und gewinnen dadurch an Eigenverantwortung.

Als «Gesundheitsbotschafterinnen» können sie so zudem andere Personen aus ihrer Gemeinschaft informieren und versorgen und somit selbst Hilfe leisten, insbesondere solchen, die dasselbe erlebt haben, oder mit ähnlichen medizinischen Bedürfnissen.

Wie fördert Ärzte ohne Grenzen die gesundheitliche Selbstversorgung?

Wir sind gerade dabei, unsere diesbezüglichen Kapazitäten im Rahmen eines patientenzentrierten Ansatzes aufzustocken. Da die Selbstversorgung als Instrument der Gesundheitsförderung immer mehr an Bedeutung gewinnt, testen wir weiter verschiedene Einsatzmethoden, um zu sehen, welche am besten funktionieren und für wen. Wir wissen, dass es häufig die Gemeinschaften selbst sind, die den Weg vorgeben, und dass es keine Patentlösung gibt.

Unabhängig von der Methode, die letztlich zum Einsatz kommt, achten wir stets darauf, dass die Frauen weiterhin medizinische Fachleute konsultieren können, wenn sie dies wünschen oder benötigen, und dass sie so rasch wie möglich versorgt werden.

Dies ist sehr wichtig, da die gesundheitliche Selbstversorgung keinesfalls als Ersatz für die traditionelle medizinische Versorgung dienen soll. Vielmehr soll sie neben Letzterer und den in den Gemeinschaften verankerten Modellen ein Teil des Versorgungssystems sein. Zudem soll sie nicht bloss eine Notlösung für Menschen darstellen, die sonst vom Versorgungssystem ausgeschlossen wären, sondern allgemein einen Mehrwert schaffen.

Ärzte ohne Grenzen hat im Kampf gegen die Ausgrenzung von Menschen immer wieder Innovationsfähigkeit bewiesen. Diesmal hoffen wir, mit den Frauen und Mädchen dieser Welt einen noch grösseren Schritt nach vorn zu machen.

Die Pille ist eindeutig das symbolträchtigste Beispiel für die gesundheitliche Selbstversorgung der Frau.

Die Pille ist eindeutig das symbolträchtigste Beispiel für die gesundheitliche Selbstversorgung der Frau.

© Carrie Hawks/MSF

Wo wird Ärzte ohne Grenzen die gesundheitliche Selbstversorgung einsetzen? 

In der Provinz Ituri, in der Demokratischen Republik Kongo, setzen wir seit Kurzem Sayana Press, ein Verhütungsmittel zur Selbstinjektion mit Langzeitwirkung ein. Injizierbare Verhütungsmittel mit Langzeitwirkung waren in unseren Kliniken schon vorher verfügbar, doch ab sofort können die Frauen sich diese selbst verabreichen.

Zunächst werden die Frauen vom medizinischen Personal bezüglich der sicheren Verwendung einer Spritze und der Selbstinjektion des Verhütungsmittels instruiert und erhalten dann bis zu vier Dosen, die sie sich zuhause in Abständen von drei Monaten spritzen können. Auf diese Weise bekommen sie einen Jahresvorrat eines hochwirksamen Verhütungsmittels, ohne dass sie sich regelmässig in die Klinik begeben müssen, was für sie nicht nur zeitaufwendig ist, sondern sich in dieser von Konflikten geplagten Region auch als gefährlich erweisen kann. 2020 wurden im Rahmen der MSF-Projekte in Angumu, Nizi und Drodro rund 3000 Sayana-Press-Dosen an Frauen verteilt.

Seit Mai 2017 bieten wir in der Region Shiselweni, in Eswatini, im Rahmen unseres Programms zur Prävention und Behandlung von HIV und Tuberkulose HIV-Speicheltests für zuhause an. Eswatini ist das Land mit der weltweit höchsten HIV-Rate. Um umfassende Dienstleistungen zur Bekämpfung des Virus anzubieten, wurden auf Landesebene umfangreiche Investitionen getätigt, wodurch die Infektionen bereits zurückgegangen sind. HIV bleibt jedoch mit beträchtlicher Stigmatisierung verbunden, die häufig mit sozialer Ungerechtigkeit einhergehen.

Von 2014 bis 2020 führte Ärzte ohne Grenzen in Malawi ein Projekt zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit mit Fokus auf Sexarbeiterinnen durch. Die gesundheitliche Selbstversorgung war das Herzstück unseres Ansatzes, der auf gegenseitiger Unterstützung innerhalb der Gemeinschaft beruhte. Wie auch in anderen Regionen der Welt werden Sexarbeiterinnen dort aufgrund ihres niedrigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status benachteiligt sowie diskriminiert und kriminalisiert. Wir beschlossen, das Problem in Malawi auf breiter Front anzugehen und die Frauen direkt in unser umfassendes Gesundheitsprogramm zu integrieren.

Die drei Säulen der gesundheitlichen Selbstversorgung spielten dabei eine wichtige Rolle: Selbstwahrnehmung (z. B. mit der Förderung der Selbsterziehung), Selbsttests (Tests für HIV und andere Krankheiten für zuhause) und Selbstmanagement (insbesondere das Verhindern ungewollter Schwangerschaften infolge ungeschützten Geschlechtsverkehrs oder sexueller Übergriffe). Die Sexarbeiterinnen hatten dadurch rund um die Uhr einen vertraulichen Zugang zu Informationen, medizinischer Versorgung und anderen Formen der Unterstützung durch Gleichgesinnte, die ihren Alltag und ihre Probleme verstehen. 

In Nablus, in Palästina, kümmern wir uns im Rahmen unseres Projekts für psychische Gesundheit um Menschen mit moderaten bis schweren psychischen Problemen sowie um Opfer von Gewalt, insbesondere um Kinder und Erwachsene, die häusliche Gewalt erlebt haben. Als im vergangenen Jahr weltweit Lockdown-Massnahmen ergriffen wurden, um die Covid-19-Pandemie einzudämmen, waren die Frauen in Nablus plötzlich ausweglos in den eigenen vier Wänden eingesperrt. Unsere einzige Möglichkeit, Kontakt zu ihnen aufzunehmen und weiterhin Hilfe zu leisten, war mittels Telekonsultation, die für die Therapeuten genauso neu war wie für die Patientinnen und Patienten. Gemeinsam mit ihren Therapeuten erarbeiteten die Frauen, die Gewalt erfahren hatten, Notfallpläne, setzten Massnahmen für die Bewältigung ihrer Angstzustände um, als sich die Lage wieder etwas normalisierte, und vereinbarten Signalwörter für den Fall, dass ihre Partner bei den Konsultationen mithören konnten. Wir stellten fest, dass weniger Menschen die Programme zur psychischen Betreuung abbrachen als noch vor der Pandemie.

In Simbabwe, im Distrikt Gutu, führten wir vergangenes Jahr gemeinsam mit dem Ministerium für Gesundheit und Kinderwohl des Landes ein Projekt zur Prävention und frühzeitigen Behandlung von Gebärmutterhalskrebs durch. Dieses Projekt diente als Plattform für einen Versuch, bei dem getestet wurde, ob ein von einer Patientin selbst durchgeführter Zervixabstrich zum Nachweis humaner Papillomaviren (HPV) genauso verwendbar ist wie eine von einer Fachperson entnommene Probe. Denn ohne besseren Zugang zur Gebärmutterhalskrebsvorsorge sterben in Ländern mit einer hohen HPV-Prävalenz wie Simbabwe Frauen häufig verfrüht. Der Versuch hat gezeigt, dass Patientinnen einen ebenso wirksamen Abstrich durchführen konnten wie die Fachpersonen. 

Im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit ist keine Behandlung so schwer zugänglich wie der medizinisch durchgeführte Schwangerschaftsabbruch. Durch eine neue Methode, bei der innerhalb von 24 Stunden mehrere Tabletten einzunehmen sind, ist ein Schwangerschaftsabbruch aber nicht nur einfacher geworden, sondern inzwischen auch zuhause möglich.

Je nach Situation kann diese Hilfe aus der Distanz das Leben von nicht verheirateten Frauen, Vergewaltigungsopfern, Vertriebenen oder jeder anderen Frau retten, die eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen möchte. Die Frauen wenden sich an uns und berichten anderen Frauen darüber. Der nächste Schritt für uns ist, diesen Service noch besser zugänglich zu machen, z. B. durch das Einrichten kostenloser Hotlines oder das Liefern von Medikamenten und Anweisungen nach Hause.

Möglichkeiten für die Entwicklung eines hochwertigen und patientenzentrierten Versorgungsangebots für Frauen und Mädchen gibt es sehr viele. Wir können die Ansätze der gesundheitlichen Selbstversorgung insbesondere in Krisen- oder schwer zugänglichen Gebieten dort gut anwenden. Die Selbstversorgung muss dabei immer in Kombination mit traditioneller medizinischer Versorgung angeboten werden, sie kann aber dort besonders nützlich sein, wo die Infrastruktur oder medizinisches Fachpersonal fehlen oder wo ausgegrenzte Personen ausserhalb des normalen Gesundheitssystems Hilfe benötigen.

Aufgrund unserer Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Gesundheitsbehörden, Organisationen und lokalen Gemeinschaften in solchen Regionen sind wir der Meinung, dass die Selbstversorgung noch besser in die Gesundheitswesen integriert werden kann, damit Frauen und Mädchen die Kontrolle über ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden erlangen.

Lassen Sie uns ihnen die nötigen Informationen und Instrumente an die Hand und damit die Macht geben, sich um sich selbst und ihre Gesundheit zu kümmern, wo auch immer sie herkommen. Lassen Sie uns Vertrauen in die Frauen und Mädchen dieser Welt haben.