In Khartum «ist die Lage nach wie vor äusserst schwierig»

Mitglieder des MSF-Teams in einem Krankenhaus in Khartum im Mai 2023 (Sudan).

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Während die Hauptstadt des Sudan seit vielen Monaten ein zentraler Schauplatz des im Land tobenden Krieges ist, haben die Kämpfe in einigen Teilen der Stadt etwas nachgelassen. Für die hier verbleibende Zivilbevölkerung ist die Lage aber nach wie vor äusserst schwierig und unsicher. Wir haben mit Jean-Guy Vataux gesprochen, der als Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Khartum arbeitete und gerade aus dem Sudan zurückgekehrt ist.

Wie sieht es in der sudanesischen Hauptstadt aus, nachdem sie seit Monaten von den Rapid Support Forces (RSF) kontrolliert wird? 

Khartum ist zum Teil eine Geisterstadt. Nur 20–30 Prozent der Bevölkerung sind geblieben, der Rest ist geflohen. Manche sind zurückgekehrt, nachdem die RSF im Dezember 2023 den benachbarten Bundesstaat Al-Dschazira unter ihre Kontrolle brachten. In manchen Vierteln gibt es ein nahezu normales Stadtleben: Kinder spielen auf den Strassen und die Eltern gehen auf den Markt. Doch das Klima bleibt insgesamt sehr angespannt und beängstigend – «post-apokalyptisch» könnte man fast sagen. Viele Gebäude sind leer geplündert und ausgebrannt. Angehörige der RSF-Milizen durchstreifen die Stadt und unterhalten Checkpoints mit regelmässigen Kontrollen. 

Khartum ist nach wie vor eine Stadt im Krieg. Die RSF führen regelmässig Artillerieangriffe auf die Regierungs-Enklaven durch, worauf die sudanesischen Streitkräfte mit Luftschlägen antworten. Es wird immer noch aktiv Krieg geführt, und die Zivilbevölkerung lebt in ständiger Angst vor beiden Konfliktparteien. Manche Mitarbeitenden des türkischen Spitals, das von Ärzte ohne Grenzen unterstützt wird, machen keinen Schritt vor die Tür, nicht einmal, um direkt vor dem Spital eine Besorgung zu machen. 

Unter welchen Bedingungen leben die Menschen, die in Khartum geblieben sind?

Seit die RSF die Kontrolle über das benachbarte Al-Dschazira übernommen haben, gibt es auf den Märkten in Khartum wieder mehr Lebensmittel, besonders Obst und Gemüse. Die Lage bleibt für die Bevölkerung aber weiterhin sehr schwierig und wird sich wohl noch verschlechtern. Im Sudan herrscht eine ausgewachsene Wirtschaftskrise – und das nicht erst seit Kriegsausbruch. In den vergangenen fünf Jahren ist die Wirtschaft geschrumpft, und heute ist es für die Menschen sehr schwierig, sich in Khartum einen Lebensunterhalt zu verdienen. Was der Wirtschaft besonders zusetzt, ist das ständige Plündern, und irgendwann wird es nichts mehr zu plündern geben.  

Die Indikatoren der UNO für den Bundesstaat Khartum sind extrem besorgniserregend. Obwohl wir diese in unserer Tätigkeit nicht überprüfen konnten, zeigen sie, dass 3,9 Millionen Menschen im Bundesstaat Khartum mit höchster Ernährungsunsicherheit konfrontiert sind (IPC-Phase 3 oder höher).

Es besteht auch die Gefahr einer Epidemie, die zu einer hohen Sterblichkeit bei dieser Bevölkerung führen könnte, die aufgrund ihres prekären Ernährungsstatus ohnehin schon sehr anfällig ist. Bisher blieb Khartum noch relativ verschont, was wohl auf die geringe Bevölkerungsdichte infolge der Massenflucht zurückgeht. Zwar gab es in der Hauptstadt auch Fälle von Cholera, doch viel weniger als in den Städten im Osten des Sudan, wo die Epidemie begann. Es gab auch einzelne Masern-Fälle, doch hat sich die Krankheit nur sehr begrenzt verbreitet, und Dengue-Ausbrüche gab es gar nicht, obwohl andere sudanesische Städten stark davon betroffen waren. Das ist aber noch lange keine Garantie dafür, dass Khartum auch künftig von Epidemien verschont bleibt.

Wie kommt die Bevölkerung an medizinische Hilfe? 

Es gibt einzelne Spitäler, die von den RSF finanziert und betrieben werden, doch sind diese naturgemäss hauptsächlich für ihre eigenen Angehörigen bestimmt. Ein hochspezialisiertes Herzchirurgie-Programm, das von einer internationalen NGO eingerichtet wurde, ist weiterhin in Betrieb, kann dem Bedarf einer Stadt im Krieg aber nicht wirklich nachkommen. Übrig bleiben nur die vier Spitäler und ein Gesundheitszentrum, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden. 

Obwohl sich die Sicherheitslage in Khartum mittlerweile etwas stabilisiert hat, gehen die Menschen ein grosses Risiko ein, wenn sie sich in ein Spital begeben. Deshalb zögern sie einen Arztbesuch so lange wie möglich hinaus und überlegen es sich zweimal, bevor sie die Stadt dafür durchqueren. Die einzigen, die sofort medizinische Hilfe suchen, sind Menschen mit kriegs- oder unfallbedingten Verletzungen. 

Im türkischen Spital haben wir schon Menschen gesehen, die grösste Gefahren eingegangen sind, um sich medizinisch versorgen zu lassen: Manche überquerten den Nil in Booten, während rundherum scharf geschossen wurde. 

Wie ist es möglich, dass das türkische Spital, an dem Sie in Khartum arbeiteten, weiterhin geöffnet ist?

Das türkische Spital ist eine der wenigen Einrichtungen, deren Personal nach Kriegsbeginn nicht geflüchtet ist. Das Gesundheitsministerium hat uns gesagt, dass diese Leute die Stadt – und ihre Arbeitsplätze – schon längst verlassen hätten, wenn Ärzte ohne Grenzen das Spital nicht durch Medikamentenlieferungen und Lohnzahlungen unterstützt hätte.

Als wir die Zusammenarbeit begannen, befand sich das Spital auf einem von der Regierung kontrollierten Gebiet. Seit die RSF den gesamten Süden der Stadt – so auch das Spitalgelände – unter ihre Kontrolle gebracht haben, befindet es sich auf RSF-Territorium. Nichtsdestotrotz blieb es von den Kämpfen und Schusswechseln relativ verschont.  

Seither ist das Aufkommen in der Notaufnahme recht konstant: Wir führen täglich an die hundert Visiten durch, hauptsächlich im Zusammenhang mit kriegsunabhängigen Operationen, Entbindungen und Verkehrsunfällen. Manchmal sind auch kriegschirurgische Eingriffe nötig. Während Offensiven und Bombardements versorgen wir mitunter bis zu 60 Kriegsversehrte pro Tag. Die restlichen Abteilungen bieten spitalmedizinische Standardleistungen an: Es gibt eine Kinderstation, eine Geburtenstation, eine Station für allgemeine innere Medizin und eine kleine Ambulanz. 

Mitglieder des MSF-Teams in einem Krankenhaus in Khartum im Mai 2023 (Sudan).

Mitglieder des MSF-Teams in einem Krankenhaus in Khartum im Mai 2023 (Sudan).

© MSF

Wie wirkt sich der Krieg auf die Gesundheit des Personals aus?

Das Personal am türkischen Spital arbeitet unter enormem Druck. Da ist einmal der Druck seitens der Rapid Support Forces, die willkürlich Leute aus der Zivilbevölkerung – darunter auch Angestellte des Gesundheitsministeriums – gewaltsam festnehmen und festhalten. Da die Angehörigen des Gesundheitsministeriums zu den staatlichen Bediensteten gehören, werden sie von den RSF als von den sudanesischen Streitkräften eingesetzte Spion:innen angesehen. 

Aber auch auf Regierungsseite sind sie mit wachsendem Misstrauen konfrontiert. Je länger der Krieg dauert und diese staatlichen Angestellten ihre Arbeit auf von den RSF kontrollierten Gebieten ausführen, je mehr sieht sie die Regierung als Teil der RSF. Es gab Berichte über Vorfälle, bei denen staatliche Bedienstete von den sudanesischen Streitkräften festgenommen und misshandelt wurden, als sie auf der Rückkehr in eine von der Regierung kontrollierte Zone ihre Checkpoints passierten. Sie erfahren am eigenen Leib, was es heisst, zwischen den Fronten zu stehen. Natürlich ist zu befürchten, dass sie diesem Druck irgendwann nicht mehr standhalten können und ins Ausland oder in andere Teile des Sudan fliehen.

Wie wird das Spital mit medizinischem Gerät und Medikamenten versorgt? 

Wie bei anderen Gesundheitseinrichtungen, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, hatten wir auch beim türkischen Spital Schwierigkeiten mit der Belieferung, seit die Regierung im Oktober eine Blockade über die Hauptstadt verhängt hat. Ab diesem Moment war es nicht mehr möglich, medizinisches Gerät und Medikamente von Port Sudan, wo die Frachtschiffe anlegen, in die von den RSF kontrollierten Gebiete zu transportieren.  

In der Folge herrschten wochenlang ernsthafte Engpässe, bis die RSF den Bundesstaat Al-Dschazira und insbesondere die Stadt Wad Madani unter ihre Kontrolle brachten, wo wir unser Material eingelagert haben. Ab dem Zeitpunkt konnten wir die meisten unserer Lagerbestände nach Khartum holen. 

Das Problem mit den Engpässen ist damit aber nicht gelöst. Wir rechnen nicht damit, via Port Sudan Material und Personal befördern zu können, da die Hafenstadt weiterhin von der Regierung kontrolliert wird – und die Regierung wird wohl an ihrer Politik noch länger festhalten. Deshalb versuchen wir derzeit, einen Versorgungskorridor über den Tschad zu organisieren.