Interview mit Luis Neira, dem medizinischen Koordinator von MSF in Somalia

Somalie, 04-04.2010

Somalia / Somaliland7 Min.

“Somalia hat einige der schlimmsten Gesundheitsindikatoren weltweit und Tuberkulose ist dabei keine Ausnahme”

Interview mit Luis Neira, dem medizinischen Koordinator  von MSF in Somalia. Er beantwortet Fragen über die neuen Behandlungsmethoden gegen Tuberkulose (TB), welche MSF in zwei ländlichen Gegenden inmitten der Region Mittel-Shabeelle im südlichen Zentral-Somalia anbietet.

Luis ist Mitglied des MSF-Teams, welches in Nairobi stationiert ist und die Operationen von MSF im südlichen Zentral-Somalia unterstützt. Über 1’300 somalische Mitarbeiter leisten in acht Regionen des Landes medizinische Hilfe. Luis ist zuständig für die medizinischen Projekte in Mittel-Shabeelle sowie in Mogadischu, der Hauptstadt des Landes.

Mittels eines Netzwerkes aus vier Gesundheitszentren in städtischen und ländlichen Gegenden der Region und einer Entbindungsstation in der Stadt Jowhar bietet MSF Mittel-Shabeelle gesundheitliche Basisversorgung an. Am 5. Juni diesen Jahres konnten MSF-Teams in den ländlichen Gegenden von Mahaday und Gololey ausserdem damit beginnen, Diagnosen bei Tuberkulose-Patienten zu stellen und ihnen eine Behandlung anzubieten.

Wie ist die Lage in dieser Region in Bezug auf Tuberkulose? Wurden viele Fälle verzeichnet? Haben Sie schon von Verdachtsfällen gehört?
Die Lage in Bezug auf Tuberkulose in Mittel-Shabeelle ist nicht anders als in den übrigen Teilen des Landes: Die Gesundheitsindikatoren in Somalia sind seit mehreren Jahren unter den weltweit schlimmsten, und Tuberkulose ist dabei keine Ausnahme. Basierend auf den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche seit 2007 nicht aktualisiert wurden, sterben in Somalia jährlich 5'500 Menschen an Tuberkulose. Durch unsere Gesundheitszentren waren wir in der Lage, in der Region Mittel-Shabeelle ein paar Verdachtsfälle zu identifizieren. Eine abschliessende Diagnose und eine Behandlung sind aber nur unter schwierigen Bedingungen durchführbar, da in diesen Regionen ein grosser Mangel an medizinischen Programmen besteht. Die Situation in den ländlichen Gegenden von Mahaday und Gololey ist jedoch dringender, da das nächstgelegene Programm sich in der Stadt Jowhar befindet und zu weit weg ist für die Nomadenvölker, welche somit keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. Die Situation hat uns dazu verleitet, ein Tuberkulose-Programm zu eröffnen, um so kranken Menschen, welche bis jetzt noch keine Behandlung erhalten haben, Zugang zu medizinischer Versorgung zu verschaffen.

Was beinhalten die Dienstleistungen von MSF?
Verdachtsfälle werden während medizinischen Untersuchungen in den primären Gesundheitseinrichtungen von Mahaday und Gololey identifiziert. Dann werden die Proben von den Patienten in klinischen Laboratorien, welche genau auf das Programm zugeschnitten sind, untersucht. Somit kann die Krankheit diagnostiziert und behandelt werden. Ausserdem erhalten die Patienten eine klinische Nachfolgeuntersuchung, Beratung und psychologische Unterstützung. Angehörige sowie sogenannte „close contacts“, also Menschen welche in Nähe der Patienten leben, erhalten die Möglichkeit, sich auch medizinisch untersuchen zu lassen. Vor allem bei Kindern unter fünf Jahren ist es wichtig, dass sie auch auf TB gestestet werden. Zudem erhalten die Patienten, welche aufgrund der Krankheit zusätzlich mangelernährt sind, ergänzende Nahrungsmittel.

Um Tuberkulose zu behandeln empfiehlt die WHO die sogenannte DOTS-Strategie (Directly Observed Treatment Short-course). Das heisst, dass die Patienten unter Aufsicht von medizinischem Personal die Medikamente einnehmen, damit allfällige Resistenzen gegen Antibiotika vermieden werden können. Wie kann solch eine Strategie in einem unstabilen Land wie Somalia durchgeführt werden?
Die DOTS-Strategie von der WHO wird bei denjenigen Patienten angewendet, welche die Möglichkeit haben, täglich die Gesundheitszentren aufzusuchen. Eine modifizierte  DOTS-Strategie wird bei den Patienten eingesetzt, welche Schwierigkeiten haben, täglich eine Gesundheitseinrichtung aufzusuchen weil sie zu weit weg wohnen oder aus anderen Gründen nicht jeden Tag abwesend sein können. Diese Strategie erlaubt es ihnen, die erste Medikamentdosis von autorisiertem Personal zu erhalten und dann mit der Behandlung zu Hause fortzufahren, bis sie wieder einen Termin im Gesundheitszentrum haben. Wir fordern alle Patienten dazu auf, sich eine Begleitperson für die Behandlung zu suchen. Das kann entweder ein Familienmitglied oder ein Freund sein, welche überprüfen, dass die Medikamente korrekt eingenommen werden. Diese Person ist auch zuständig dafür, dass das medizinische Fachpersonal über den Zustand des Patienten informiert wird und erfährt, falls die Medikamente zu etwaigen Nebenwirkungen führen. Auf diese Art wird dem Patienten ein Teil der Last, welche die Behandlung mit sich bringt, abgenommen. Wir stellen zudem fest, dass die Befolgung der Behandlung eher stattfindet, da die Patienten nicht täglich ins Gesundheitszentrum gehen müssen, was so oder so nicht einfach ist für den ländlichen Teil der Bevölkerung. Überdies haben die Patienten so jemanden an ihrer Seite, auf den sie zählen können und welcher sie unterstützt, die Medikamente regelmässig einzunehmen.

In Westafrika wurde Tuberkulose mit HIV/Aids in Verbindung gebracht und Fälle von multiresistenter Tuberkulose wurden auch verzeichnet. Gelten diese Befürchtungen auch für Somalia?
Genaue Daten sind schwierig zu finden, da in Bezug auf HIV/Aids und multiresistente Tuberkulose sehr wenig unternommen wurde in Somalia. Dennoch gehen wir davon aus, dass multiresistente Tuberkulose eines der Hauptprobleme in Somalia ist. In den wenigen Orten, wo Behandlungen angeboten werden, wird die Distribution von Medikamenten mehr schlecht als recht gehandhabt. Medikamente gegen Tuberkulose werden oft in privaten Apotheken verkauft. Die Medikamente sind meistens von zweifelhafter Qualität und die Behandlungen unvollständig und kürzer als üblich. Dies ist ein weiterer Grund, wieso das Programm von MSF enorm wichtig ist.

Die letzten zwei Jahre wurden die MSF-Programme in Somalia von nationalen Mitarbeitern geführt. Aufgrund der instabilen Lage wurden sie von einem Management-Team, welches in Nairobi stationiert ist, unterstützt. Wie wurde das Team auf die Diagnostizierung und Behandlung von TB vorbereitet?
Für das Tuberkulose-Team haben wir Leute angestellt, die schon für unser Projekt in Jowhar gearbeitet haben. Diese Mitarbeiter haben schon Erfahrung in dieser Sache und die nötige medizinische Fachkenntnis. Zudem wird das Team neu von einem technischen Laboranten unterstützt, welcher auch schon viel Erfahrung mit TB-Programmen von MSF gesammelt hat. Zusätzlich haben wir einen Medical Officer angestellt, welcher auf Atemwegserkrankungen spezialisiert ist. Diese Person wird dem Team mit technischer Unterstützung von ihrem Arbeitsplatz in Nairobi zur Seite stehen und so oft als möglich selbst ins Feld gehen. Das ganze Team wurde vier Monate lang auf die Leitung von diesem TB-Programm vorbereitet und ausgebildet. Die Ausbildung bestand aus Theorieblöcken sowie aus einem praktischen Teil, welcher im TB-Programm von MSF in Kenia und anderen Teilen Somalias durchgeführt wurde. 

MSF arbeitet in Süden Zentralsomalias seit 1991. Momentan ist die Organisation in acht Regionen tätig: Banadir, Bay, Hiraan, Galgaduud, Mittel-Jubba, Mittel-Shabeelle, Unter-Shabeelle und Mudug.

MSF akzeptiert keine Gelder von Institutionen für die Projekte im Süden Zentralsomalias. Die Mittelbeschaffung wird einzig durch private Spenden bewerkstelligt.

TB: Diagnose und Behandlung

Tuberkulose ist eine ansteckende Krankheit, die durch Luft übertragen wird. Die Lungen betreffend, wird diese Krankheit von einem hartnäckigen Husten, Atemnot und Brustschmerzen begleitet. Zusätzlich zur Lunge kann die Krankheit auch auf jeden anderen Teil des Körpers, wie zum Beispiel die Lymphknoten, die Wirbelsäule oder die Knochen übergreifen. Ein Drittel der Weltbevölkerung ist derzeit mit dem TB-Bakterium infiziert. Jedes Jahr stecken sich neun Millionen Menschen mit aktiver TB an und nahezu zwei Millionen sterben daran.

Die am meisten verbreitete Art um TB in Entwicklungsländern zu diagnostizieren, ist die Mikroskop-Untersuchung einer Speichelprobe der Patienten. Diese Methode wurde vor über einem Jahrhundert entwickelt und so rückständig, sodass weniger als die Hälfte aller TB-Fälle entdeckt werden. Derzeit ist die beste Alternative, Kulturen von Speichelproben anzulegen, um zu sehen, ob die Probe lebende TB-Mikrobakterien enthält. Diese Art der Diagnose ist zwar genauer, muss aber in einem Labor und durch qualifiziertes Personal durchgeführt werden. Zudem können Testergebnisse bis zu acht Wochen auf sich warten lassen. 

Medikamente um TB zu behandeln, wurden in den 1950er-Jahren entwickelt und die Behandlung von unkomplizierter TB dauert sechs Monate. Schlechte Handhabung oder das Nichteinhalten der Dosierung haben dazu geführt, dass sich neue TB-Stämme entwickelt haben, die gegen mindestens ein TB-Medikament resistent sind. Von multiresistenter TB (MDR-TB), der gravierendsten Form von TB, wird dann gesprochen, wenn Patienten gegen die beiden stärksten First-Line-Medikamente Resistenzen entwickelt haben. MDR-TB ist nicht unbehandelbar, aber die Behandlung wird von zahlreichen Nebenwirkungen begleitet und dauert bis zu zwei Jahre. Ein neuerer TB-Stamm, extensive medikamentresistente Tuberkulose (XDR-TB) wird dann diagnostiziert, wenn Patienten mit MDR-TB auch auf Second-Line-Medikamente resistent reagieren. Dies erschwert die Behandlung zusätzlich.