Indien: Befähigung von Überlebenden sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt

Fatima, Mitarbeiterin in Dehli, Indien.

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Geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt ist ein weltweites Problem, so auch in Indien. 30 Prozent der Frauen vor Ort erleben physische oder sexualisierte Gewalt, aber nur 2 Prozent von ihnen lassen sich medizinisch behandeln. Das Stigma und die Scham halten Betroffene oft davon ab, darüber zu reden oder Hilfe zu suchen. Hier spielt die Unterstützung durch die Community eine entscheidende Rolle. Davon erzählt auch die Geschichte von Fatima, selbst Überlebende und Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen/Médecins sans Frontières (MSF) in Delhi.

Fatima war die erste weibliche Fahrerin einer E-Rikscha im Stadtteil Jahangirpuri im Nordwesten Delhis. Ihre Geschichte erzählt von Resilienz und Hoffnung. Fatima hat ein strahlendes Lächeln und spricht selbst über die dunkelsten Zeiten ihres Lebens ganz ruhig.

Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 2015 bleibt Fatima ohne Einkommen oder Erspartes zurück. Auch hat sie keine Angehörigen, an die sie sich wenden könnte. Nach einigen Nebenjobs entscheidet sich Fatima, Fahrerin einer E-Rikscha zu werden. Sie verkauft alles, was sie im Haus finden kann, und kauft eine gebrauchte E-Rikscha. Schnell erlangt sie eine gewisse Berühmtheit, denn im Stadtteil Jahangirpuri ist sie die erste Frau mit diesem Beruf.

Kleine Kinder und Schulkinder, aber auch Erwachsene baten mich oft, anzuhalten und für Fotos zu posieren. Sie gratulierten mir für meine Entscheidung, etwas zu tun, das sie als «Männerarbeit» ansahen.

Fatima, Mitarbeiterin in Dehli

Bewusstseinswandel nötig

«Im Jahr 2016 fuhr ich mit meiner E-Rikscha durch das Quartier Aazadpur, als ich eine Frau in weisser Weste sah. Ich hatte zuerst Angst, da ich damals meinen Führerschein noch nicht hatte. Ich dachte, die Frau könnte meine E-Rikscha konfiszieren.

Sie bat mich, sie bei der Klinik «Umeed Ki Kiran» von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) in der Nähe der U-Bahnstation Jahangirpuri abzusetzen. Als sie ausstieg, hielt die Frau meine Hand sanft. Aber ich hatte immer noch Angst, sie würde mir meine E-Rikscha, die ja meine einzige Einkommensquelle war, wegnehmen. Ich begann zu weinen.

Da die Frau Englisch sprach, verstand ich nichts. Ich erinnere mich noch ganz deutlich, wie die Person, die sie begleitete, mich beruhigte und erklärte, dass sie mich als Fahrerin für die Klinik Umeed Ki Kiran (UKK) engagieren wollten. Es ist nun mehr als sieben Jahre her, seit ich angefangen habe für die Klinik zu arbeiten.»

Unterstützung der Überlebenden durch die Community

Fatima kommt um 8.30 Uhr in der Klinik UKK an. Anschliessend holt sie Betroffene geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt für die medizinische Behandlung in der Klinik ab und fährt sie danach wieder nach Hause. Auch lokale Gesundheitshelfer:innen bringt sie an ihre Arbeitsorte.

Da Fatima selbst auch geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt erlebt hat, empfindet sie tiefe Empathie für die Betroffenen, die sie fährt. Sie versteht, wie schwierig ihr Leben sein kann und auch die komplexen Emotionen, die mit dem Erlebten verbunden sind. Fatimas Engagement für die Überlebenden kennt keine Grenzen – sie tut weit mehr für sie, als ihre Aufgabe wäre.

Oft äussern diese Frauen den Wunsch, ebenfalls E-Rikscha-Fahrerin zu werden, um finanziell unabhängig zu sein. Ich sehe die Hoffnung in ihren Augen, wenn sie sehen, dass eine Frau sie in Empfang nimmt und fährt.

Fatima, Mitarbeiterin in Dehli

«Einmal habe ich unsere lokalen Gesundheitshelfer:innen ins Spital begleitet. Als ich wartete, habe ich eine junge, vielleicht zwanzigjährige Frau gesehen. Sie sass dort und weinte sehr. Ich ging vorsichtig auf sie zu. Sie öffnete sich mir und erzählte mir von der Gewalt, die sie erlebt hatte. Es war offensichtlich, dass es sie grosse Überwindung und Mut kostete, mir davon zu erzählen. Ich hörte also sehr aufmerksam zu und versuchte, sie so gut wie möglich zu unterstützen. Ich konnte sie schlussendlich überreden, in die Klinik zu kommen und mit den Berater:innen von unseren Teams zu sprechen. Am Anfang zögerte sie, aber als ich ihr von meinen Erfahrungen und meinem Leben erzählte und ihr meinen Mitarbeitenden-Ausweis zeigte, willigte sie ein.

Fatima mit einer Patientin. Dehli, Indien.

Fatima spricht mit einer Einwohnerin von Dehli über sexualisierte Gewalt. Indien, März 2023.

© Sapna Rani/MSF

Als die junge Frau die Klinik nach der Beratung wieder verliess, umarmte sie mich fest, mit Freudentränen in den Augen. Sie dankte mir sehr, dass ich sie unterstützt hatte, die notwendige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich bekomme immer noch Hühnerhaut, wenn ich an sie denke.»

Da Fatima selbst Überlebende ist, weiss sie, wie wichtig es ist, mitfühlend mit den Betroffenen zu reden, um keine Retraumatisierung auszulösen. Sie stellt ein Klima des Vertrauens her, das den sicheren Boden für die weiterführende medizinische Versorgung schafft. Die Art, wie Fatima mit den Überlebenden spricht, hilft ihnen, auch dem medizinischen Fachpersonal zu vertrauen.

«Ich gehöre derselben Community an wie die Überlebenden und Patient:innen, und ich bin sehr froh, dass ich ihnen in irgendeiner Form helfen kann. Ich habe das gleiche Trauma erlitten. Ich habe massive Gewalt erlebt in meinem Leben. Ich schätze mich glücklich, dass ich nun auf der anderen Seite stehe und die Überlebenden unterstützen und mit Hilfe versorgen kann.»

Sobald sie sich in meine E-Rikscha setzen, sage ich ihnen «ki ki rona nahi hai, himmat rakhna hai aur aage badhna hai» (weint nicht, habt Vertrauen, bleibt stark und konzentriert euch auf die Zukunft und die Heilung).

Fatima, Mitarbeiterin in Dehli

Die Geschichte von Fatima zeigt, dass die Unterstützung aus der eigenen Community das Leben der Betroffenen von geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt verändern und ihnen einen Neuanfang ermöglichen kann. Fatima ist nicht nur Fahrerin, sondern auch ein unverzichtbares Bindeglied zwischen der Community der Überlebenden geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt auf der einen, und dem medizinischen Personal auf der anderen Seite.  Sobald die Überlebenden in ihre E‑Rikscha steigen, sorgt Fatima dafür, dass sie eine menschliche, unterstützende und nicht intrusive Versorgung erhalten.

Die Verbreitung geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt

Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) eröffnete 2015 im Nordwesten Delhis eine Klinik, um medizinische Versorgung für Betroffene geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt in den Regionen Jahangirpuri und Bhalswa anzubieten. Umeed Ki Kiran ist eine Gemeinschaftsklinik, die kostenlos und vertraulich medizinische und psychologische Versorgung für Betroffene anbietet. Die Erfahrung unseres Teams zeigt, dass in dieser Region Kinder, Jugendliche, Sexarbeiter:innen (einschliesslich trans* Frauen), beeinträchtigte Menschen, die niedrigeren Kasten angehören, und religiöse Minderheiten am meisten von geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Wichtig zu verstehen ist, dass aufgrund der Normalisierung der Gewalt und der damit verbundenen Stigmatisierung und Scham Überlebende oft davon abgehalten werden, darüber zu sprechen oder Hilfe zu suchen. Genau deswegen ist es so wichtig, Menschen wie Fatima, die Mitglied dieser Gemeinschaft der Überlebenden sind, einzubeziehen und ihnen Verantwortung zu übergeben. So erhalten Betroffene Zugang zu Hilfe und zu medizinischer Versorgung, die sie dringend benötigen.