Abu Ahmad: «Ich mache mir so viele Sorgen um die Zukunft»

Bangladesch, 15.08.2018

Bangladesch6 Min.

Der 52-jährige Abu Ahmad ist Vater von acht Kindern. Bei seiner 11-jährigen Tochter Rukia trat im letzten August eine Lähmung auf – kurz vor Ausbruch der Gewalt in Myanmar.

Nach ihrer Flucht nach Bangladesch verbrachte Rukia über sieben Monate in der medizinischen Einrichtung von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Kutupalong. Sie kehrt alle paar Tage zurück, um ihre Wundliegegeschwüre behandeln zu lassen. Abu Ahmad erzählt uns von der Flucht seiner Familie, dem Leben in Bangladesch und seinen Hoffnungen für die Zukunft.

«Bevor der Konflikt begann, besassen wir Kühe, Ziegen, Land – all diese Dinge. Unsere Lebensgrundlage verdienten wir uns selbst. Von der Regierung in Myanmar wurden wir mit Drohungen und Folter konfrontiert. Wenn jemand eine höhere Ausbildung machen wollte, musste er aus dem Land fliehen. Denn wenn die Regierung davon erfahren hätte, wäre er verhaftet worden. Unsere Bewegungsfreiheit war sehr eingeschränkt. Wir durften uns nur in unserer Gegend aufhalten und die Checkpoints nicht überqueren – im Gegensatz zu anderen Menschen wie z.B. Mönchen oder anderen ethnischen Gemeinschaften. 

Dann begann der Konflikt: Kämpfe, Messerstechereien und das Anzünden von Häusern. Kurz davor traten bei meiner Tochter Rukia Lähmungserscheinungen auf. Sie klagte über Schmerzen und konnte unterhalb ihrer Taille nichts mehr spüren. Eines Nachts rief ich all meine Kinder zusammen, um zu besprechen, wie wir mit dieser Situation umgehen. Wir hatten nicht viel Hoffnung. Denn egal, wie wir gehandelt hätten, wir wären immer der Gefahr ausgesetzt gewesen, verhaftet zu werden. Mein ältester Sohn wies mich darauf hin, dass wir nicht mehr in der Lage wären, mit Rukia zu fliehen, wenn die Kämpfe erst einmal begonnen hätten. 

Es wird keine Chance geben, ihr Leben zu retten. Du und Mutter solltet sie jetzt nach Bangladesch bringen. Wir können später nachkommen. Es blieb meiner Frau und mir also keine andere Wahl, als mit Rukia nach Bangladesch zu fliehen.

Abu Ahmad

Die Flucht aus Myanmar

Nachdem wir das Haus verlassen hatten, waren in unserem Dorf überall Regierungsleute mit Waffen. Wir wanderten meilenweit durch die Berge und heuerten Männer an, die Rukia trugen. Spät in der Nacht sind wir dann endlich an der Küste gegenüber von Bangladesch angekommen. Als wir schliesslich ein Boot sahen, warteten bereits rund 20 bis 30 andere Menschen mit uns am Ufer. Der Kapitän brachte uns alle sicher nach Bangladesch. Als wir ankamen, warteten die Grenzpolizisten. Sie begrüssten uns und gaben uns Nahrung, Wasser und Kekse. Am Morgen danach brachten sie uns mit einem Bus in das Flüchtlingslager Kutupalong.

Ich war besorgt, als wir aus dem Bus ausstiegen. Wir waren noch nie zuvor in Bangladesch. Ich wusste nicht, wohin ich meine kranke Tochter bringen sollte. Daher fragte ich jeden, den ich sah. Die Leute erzählten uns von der medizinischen Einrichtung von MSF in Kutupalong. Die Ärzte dort nahmen mir Rukia ab und behandelten sie. Fast siebeneinhalb Monate  verbrachte sie im Spital – dort wurden Röntgenaufnahmen gemacht und sie erhielt Bluttransfusionen. Täglich wurde ihr Gesundheitszustand beobachtet. Zudem erhielten wir regelmässig Mahlzeiten.

Als ich Rakhine mit meiner Frau und Rukia verliess, waren die Dinge noch nicht so schlimm. Es wurde viel schlimmer, als wir es jemals für möglich gehalten hätten. Nach meiner Ankunft in Kutupalong wusste ich nicht, was mit meinen sieben anderen Kindern geschehen war. Andere Leute erzählten uns, dass unser Haus angezündet worden und unsere Kinder geflohen seien. Wir hatten kein Telefon oder irgendeine andere Möglichkeit, sie zu kontaktieren. Wir waren extrem besorgt. Nach einiger Zeit hörten wir, dass sie in Bangladesch angekommen waren und nach uns suchten. Sie schafften es nach Kutupalong und fanden uns in der Einrichtung von MSF. Als ich nach zwei Monaten endlich wieder mit ihnen vereint war, verspürte ich das erste Mal ein Gefühl der Ruhe. Ich war so glücklich, meine Kinder wieder zu haben. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Welt zurück.

Leben in Bangladesch

Die Regierung gab uns Holz, Bambus und Plastikplanen, um hier ein Haus zu bauen. Wir bekommen Rationen von Öl, Reis und Dhal (Linsen). Durch den Verkauf von Dhal und Öl verdienen wir zwischen 100-200 Taka (1-2 Euro). Davon müssen wir einen Monat lang überleben. Wir haben kein Einkommen. Wenn wir arbeiten könnten, wäre das Leben einfacher.

Die Situation mit Rukia im Camp ist sehr schwierig. Weil sie selbst nicht mehr laufen kann, müssen wir sie aus dem Lager alle paar Tage ins Spital bringen. Der Weg vom Haus zur Strasse ist beschwerlich. Das Lager besteht aus so vielen Hügeln, und ich muss die Kleine in meinen Armen tragen, bis ich sie den Rest des Weges mit einem Rollstuhl schieben kann. Für den Bau unseres Hauses konnte ich keinen flachen Platz im Lager finden. Wenn ich Geld hätte, könnte ich sie mit dem Bus ins Spital bringen und diese Strapazen vermeiden.

Im Spital wurden so viele Tests und Behandlungen durchgeführt, aber wir wissen immer noch nicht, warum Rukia gelähmt ist. Ich bete immer zu Gott, dass er ihr hilft, wieder zu gehen. Rukia wünscht sich, dass ich sie ins Ausland bringe, damit sie behandelt werden und studieren kann. Wenn sie solche Dinge sagt, werde ich traurig. Ich fühle mich dann beunruhigt und unter Druck. Ich mache mir viele Sorgen, Sorgen um die Zukunft. Ich denke über Nahrung, Kleidung, Frieden und unser Leiden nach. 

Wenn Rukia sich bewegen könnte, wäre sie glücklicher. Sie bittet mich, sie im Rollstuhl herumzuschieben, aber weil das Lager so hügelig ist, kann ich das nicht tun. 

Wir werden nach Myanmar zurückkehren

Wir sind nicht staatenlos, wir sind immer noch aus Myanmar. Unsere Vorfahren sind von dort; unsere Urgrossväter wurden dort geboren. Das Land, in dem unsere Nabelschnur durchtrennt wurde, ist Myanmar. Wir werden zurückkehren, wenn dort wieder Frieden herrscht – aber nur unter bestimmten Bedingungen: Wenn wir unsere Freiheit zurückbekommen und unser Haus, Land und Vieh. Wir sind bereit, in unser Land zurückzukehren, aber wie können wir zurückgehen, solange dort noch Konflikte herrschen?»