Die europäischen Regierungschefs müssen dafür sorgen, dass die Überlebenden endlich sicher an Land gehen können

Mittelmeer, Oktober 2019

Italien6 Min.

SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen fordern die europäischen Staats- und Regierungschefs mit Nachdruck dazu auf, die Ausschiffung von 104 Seenot-Überlebenden an Bord des Rettungsschiffes Ocean Viking zu ermöglichen. Die beiden humanitären Hilfsorganisationen warten seit Tagen auf die Zuweisung eines sicheren Hafens für die Ocean Viking, die zwischen Italien und Malta in internationalen Gewässern gestrandet ist. Ausserdem muss endlich ein koordinierter Mechanismus für das Ausschiffen von Geretteten eingeführt werden.

Die 104 Menschen wurden von der Crew der Ocean Viking bereits vor zehn Tagen in internationalen Gewässern vor Libyen aus Seenot gerettet.

Es braucht einen europaweiten Mechanismus für die Ausschiffung

«In den letzten vier Monaten trafen sich mehrere europäische Staats- und Regierungschefs erst in Paris, dann in Malta und schliesslich in Luxemburg, um einen Mechanismus für die temporäre Ausschiffung und Verteilung von Menschen, die im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet wurden, einzurichten», sagte Louise Guillaumat, stellvertretende Direktorin der Projektarbeit von SOS Méditerranée. «Heute werden wieder 104 Überlebende in unerträglicher Unsicherheit auf dem Deck eines Rettungsschiffes allein gelassen. Wann sie an Land gehen können, ist völlig offen. Diese Ungewissheit verursacht zusätzliches Leid, und das, obwohl die Geretteten bereits Schreckliches erlebt haben. Europa kann und sollte mehr Solidarität mit seinen Küstenstaaten zeigen», fügte sie hinzu.

Unter den 104 Menschen, die von der Crew der Ocean Viking am 18. Oktober 2019 gerettet wurden, befinden sich zwei schwangere Frauen und 41 Kinder.

Die Ungewissheit verschlimmert das Leid der Überlebenden

Die jüngsten Kinder an Bord sind gerade einmal zwei und elf Monate alt, eines von ihnen wurde nach Angaben der Mutter in einem Gefangenenlager in Libyen geboren. Die grosse Mehrheit (76 Prozent) der Minderjährigen gibt an, unbegleitet ohne Elternteil oder Vormund zu reisen. Viele der Überlebenden berichten, dass sie mehrere Jahre lang in Libyen gefangen waren. Einige geben an, sie seien wegen der aktiven Kämpfe im Land geflohen, die im April dieses Jahres begannen.

Alle Menschen, die bisher in der medizinischen Station an Bord der Ocean Viking untersucht wurden, berichteten, dass sie auf ihrer Reise Gewalt erlebt haben oder Zeuge von Gewalt wurden, darunter auch sexuelle Gewalt.

Michael Fark, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen

«Frauen haben unserem Ärzteteam erzählt, dass sie aufgrund von Zwangsheirat, weiblicher Genitalverstümmelung oder sexueller Gewalt aus ihren Heimatländern geflohen sind», sagte Michael Fark, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen. «Es ist inakzeptabel, dass diese schutzbedürftigen Menschen seit zehn Tagen in Ungewissheit auf offener See ausharren müssen. Diese lange und unnötige Zeit auf See muss beendet werden. Wir fordern die europäischen Staats- und Regierungschefs auf, ihren Prinzipien gerecht zu werden und den Überlebenden zu ermöglichen, endlich sicher an Land gehen zu können», so Fark.

Neue Notfälle im zentralen Mittelmeer

Während die Ocean Viking gestrandet ist, werden im zentralen Mittelmeer neue Notfälle gemeldet. Am Wochenende gab es gleich zwei Einsätze von Rettungsschiffen, darunter einer durch die Alan Kurdi der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye. Wie so oft im vergangenen Jahr scheint diese Rettung in einem verwirrenden Kontext mit den zuständigen Behörden durchgeführt worden zu sein.

Bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, starben allein in diesem Jahr mindestens 692 Menschen.

Rettungsschiffe dürfen nicht durch unnötig lange Prozesse auf See blockiert und so an ihren lebensrettenden Aktivitäten gehindert werden.

Europäische Regierungschefs in der Pflicht

Ein Treffen der EU-Minister in Luxemburg im Oktober soll zu einer Einigung über ein sechsmonatiges «Pilotprojekt» mit sieben Mitgliedstaaten geführt haben. Dies sind sieben Länder weniger als das ursprüngliche Ziel von vierzehn Ländern, das auf einem vorhergehende Treffen im Juli in Paris angekündigt worden war. Im Oktober gab es vielversprechende Anzeichen für den Beginn eines Ausschiffungssystems, das auf der Einhaltung des Völkerrechts beruht. Kurz nach diesem Treffen konnten 176 Personen in Taranto, Italien, innerhalb von 26 Stunden nach der Rettung von Bord der Ocean Viking gehen. Doch weniger als eine Woche später ist die Ocean Viking nun wieder ohne einen Hafen in ungewisser Warteposition.

«Die derzeitige Situation der Ocean Viking zeigt, wie anfällig das angekündigte EU-Pilotprojekt zur Ausschiffung ist. Die Rückkehr zu den einmaligen ad hoc-Ansätzen der letzten 16 Monate ist ein Rückschritt. Unnötige Pattsituationen werden nur dann ein Ende haben, wenn eine breitere Koalition von willigen europäischen Ländern zusammenkommt. Dabei müssen die Länder, in denen die Menschen an Land gehen dürfen, ohne weitere Verzögerung unterstützt werden», forderte Louise Guillaumat.

Hintergrund

Am 18.10.2019 rettete die Ocean Viking  50 Seemeilen vor der libyschen Küste 104 Menschen aus Seenot von einem Gummiboot. Das Boot in Seenot war an Bord durch ein Fernglas gesichtet worden.

Der Ocean Viking beantragte kurz darauf bei den zuständigen Seebehörden einen sicheren Ort. Die Libysche Gemeinsame Rettungskoordinationsstelle (JRCC) nannte den Hafen von Tripolis am Tag der Rettung als sicheren Ort. Dies konnte die Ocean Viking nicht akzeptieren. Kein Hafen in Libyen kann nach dem Völkerrecht als sicher angesehen werden.

Am 20.10.2019 forderte der Ocean Viking die italienischen und maltesischen Koordinierungszentren für die Rettung auf See (MRCCs) auf, sich mit den am besten geeigneten MRCCs abzustimmen, um das Ausschiffen so früh wie möglich zu erleichtern. Seitdem wurde der Ocean Viking kein sicherer Ort zugewiesen.