Warum MSF beschlossen hat, sich aus Somalia zurückzuziehen

Le Dr. Unni Krishnan Karunakara. 14.08.2013

Somalia / Somaliland5 Min.

Dr. Unni Karunakara, internationaler Präsident von Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF), schildert die Gründe für diesen schmerzhaften Entscheid.

Am 14. August gaben wir bekannt, dass wir alle medizinischen Programme in Somalia einstellen werden. Diese Nachricht hat sowohl die politische Welt als auch die humanitäre Gemeinschaft erschüttert. Sie kam zu einem Zeitpunkt, als sich weltweit führende Politiker zum ersten Mal seit Jahrzehnten positiv über das Land äusserten, das auf einem guten Weg sei und endlich über eine stabile Regierung verfüge. Der Moment unserer Entscheidung hätte für sie kaum ungünstiger kommen können. In Medieninterviews wurden wir gebeten, die Diskrepanz zwischen den optimistischen Äusserungen der Regierungen und unserem eigenen harten Urteil zu erklären, das zu einer der schmerzhaftesten Entscheidungen in der Geschichte von Médecins Sans Frontières/ Ärzte ohne Grenzen (MSF) geführt hat.
Ich möchte versuchen, unsere Gründe darzulegen. Zunächst einmal ist MSF keine Organisation, die Kommentare über politische oder wirtschaftliche Entwicklungen abgibt. Wir konzentrieren uns einzig und allein auf die Gesundheit der Menschen und ihren Zugang zu medizinischer Hilfe, wenn sie diese benötigen. Vor diesem Hintergrund und angesichts dessen, was wir während unserer umfangreichen Tätigkeiten in diesem Land erlebt haben, gibt es schlicht nichts Positives zu berichten. Grosse Teile der somalischen Bevölkerung haben nicht genug zu essen; Krankheiten und Verletzungen sind allgegenwärtig. Die Menschen haben kaum eine Möglichkeit, sich ausreichend medizinisch versorgen zu lassen. Wir haben dafür gekämpft, ihnen in den meisten Landesteilen medizinische Dienste anbieten zu können, auch wenn wir dafür Kompromisse machen mussten. Zum Schutz unserer Kliniken und unseres Personals stellten wir bewaffnete Wachposten ein. Das tun wir in keinem anderen Konfliktgebiet.

16 getötete Mitarbeiter

Trotz dieser extremen Massnahme kam es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen: Kollegen wurden entführt und 16 (!) unserer Mitarbeiter wurden getötet. Zudem erreichte die Anzahl der Drohungen, Diebstähle und anderen Zwischenfällen ein unerträgliche Ausmasse. In keinem anderen Land der Welt sind die Sicherheitsrisiken so hoch. Die vielen Kommentatoren auf Twitter, die bemerkten, MSF sei bekannt dafür, auch unter den schwierigsten Bedingungen im Land zu bleiben, haben Recht. Dennoch gibt es auch für MSF eine Grenze des Erträglichen. Diese ist nach den Tötungen und Entführungen in den letzten fünf Jahren in Somalia nun erreicht. Im Dezember 2011 wurden zwei unserer Kollegen in Mogadischu brutal ermordet. Ihr Mörder, der vor Gericht kam, für schuldig befunden und zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, kam nach nur drei Monaten wieder frei. Zwei andere Kolleginnen, die zwei Monate davor aus Dadaab entführt worden waren, wurden erst vor wenigen Wochen wieder freigelassen. Sie waren 21 lange Monate irgendwo im Süden Zentralsomalias als Geiseln gefangen gehalten worden. Diese zwei Ereignisse haben uns den letzten Schlag versetzt.

Duldung der Gewalt gegen humanitäre Helfer

Dennoch sind weder die Sicherheitslage noch die kriminellen Handlungen der Grund für unseren Weggang. Vielmehr ist es die Tatsache, dass genau die Parteien, mit denen wir minimale Sicherheitsgarantien aushandelten, die Übergriffe auf humanitäre Helfer duldeten und hinnahmen. In einigen Fällen haben sie die kriminellen Übergriffe auf unsere Mitarbeiter sogar aktiv unterstützt. Dies raubte uns den letzten Funken Hoffnung auf eine mögliche Fortführung unserer Arbeit in Somalia. In vielen anderen Fällen schafften diese Parteien die Voraussetzungen, die diese Angriffe erst ermöglicht hatten. Niemand hat sich aufgelehnt und es für nicht hinnehmbar erklärt, wenn Ärzte, Pflegepersonal und andere Mitarbeiter, die nur versuchten, Menschen medizinisch zu versorgen, bedroht, entführt und ermordet wurden.
Um es klar zu sagen: Mit „Parteien“ in Somalia sind nicht nur die al-Shabaab-Milizen gemeint, auch wenn diese in vielen Gebieten, wo wir arbeiteten, grosse Macht und Einfluss haben. Wir beschuldigen auch nicht allein die Regierung in Mogadischu, die bei der Ermordung unserer zwei Kollegen mit Gleichgültigkeit reagierte, wie die frühzeitige Freilassung des Mörders zeigt. Vielmehr lautet das Fazit von MSF, dass die Duldung von Gewalt gegen Gesundheitshelfer die somalische Gesellschaft durchdrungen hat und dass diese Duldung mittlerweile von vielen bewaffneten Gruppen und vielen Ebenen der Zivilregierung geteilt wird, von den Clan-Ältesten bis hin zu den Distriktkommissaren und zur somalischen Bundesregierung.

Patienten nach Hause geschickt

Die Bereitschaft zum Missbrauch humanitärer Hilfe zeigte sich erneut unmittelbar nach der Ankündigung unseres Rückzugs aus Somalia. Bereits einen Tag später besetzten lokale al-Shabaab-Vertreter unsere Spitalgelände in Dinsor und Marere, beschlagnahmten die Ausrüstung und das Material und schickten die Patienten nach Hause, deren Behandlung wir nicht zu Ende führen konnten. Und ebenfalls einen Tag später gab ein Sprecher des somalischen Präsidenten zu Protokoll: „Die Entscheidung von MSF ist genau das, was al-Shabaab und al-Qaida wollten, damit sie die Bevölkerung weiterhin terrorisieren können. Wir bitten MSF, die Entscheidung rückgängig zu machen und wieder mit den Menschen zusammenzuarbeiten.“ Damit wurde erneut versucht, uns, einer humanitären Organisation, politische und militärische Bedingungen aufzuzwingen.
Unsere Entscheidung, Somalia zu verlassen, war eine der schmerzhaftesten in der gesamten Geschichte von MSF. Im vergangenen Jahr und in der ersten Hälfte von 2013 behandelten wir in Somalia monatlich nahezu 50‘000 Menschen. Das sind fast 2‘000 Patienten an einem einzigen Tag. Viele von ihnen werden nun Mühe haben, die so dringend benötigte medizinische Hilfe zu erhalten. Für eine Organisation von Ärzten ist das eine schwere Verantwortung.

Fortsetzung der Hilfe für somalische Flüchtlinge

In Kenia haben Hunderttausende somalischer Flüchtlinge nun noch weniger Aussicht auf eine baldige Rückkehr. MSF setzt die medizinische Versorgung der Flüchtlinge in Kenia und Äthiopien fort, allerdings unter Bedingungen, die kaum mehr Sicherheit für Patienten und Mitarbeiter bieten als in Somalia.
Solange diejenigen, die in Somalia Macht oder Einfluss haben, nicht beweisen, dass sie eine unparteiische medizinische Versorgung der Menschen in den verschiedenen Regionen wertschätzen, solange sie nicht diejenigen respektieren, die für diese Arbeit enorme persönliche Risiken auf sich nehmen – so lange kann MSF nicht nach Somalia zurückkehren.
Dieser Beitrag erschien am 20. August 2013 in der kenianischen Tageszeitung The Standard.