Schliessung der Camps darf nicht der Endpunkt von Kenias Solidarität sein

Luftansicht des Lagers Dadaab, Kenia

Kenia6 Min.

«Ende März dieses Jahres war ich in Dagahaley – einem der drei Camps des Dadaab-Flüchtlingslagers – als die Nachricht umging, dass Kenia die Lager Dadaab und Kakuma schliessen wolle. Zusammen beherbergen sie fast eine halbe Million Menschen», Adrian Guadarrama arbeitet für Ärzte ohne Grenzen in Genf und ist stellvertretender Programmverantwortlicher für Kenia.

«Dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) wurden zwei Wochen Zeit eingeräumt, um über das Schicksal dieser Menschen zu entscheiden und einen Plan für die Schliessung der Lager auszuarbeiten. Ein Plan, der, wenn er umgesetzt wird, das Leben und Wohlergehen der Flüchtlinge gefährden würde. Werden jedoch dauerhafte Lösungen angeboten, dann könnte er die Ungewissheit beenden, mit der die Flüchtlinge seit Jahrzehnten leben.

Stellen Sie sich vor, Sie wären in Dadaab: in einem Meer aus rotem Staub im abgelegenen Nordosten Kenias, gesäumt von dürren Dornenbäumen. Ohne zu wissen, was als Nächstes passieren wird. Ohne Möglichkeiten, Ihre Zukunft irgendwie beeinflussen zu können. Komplett abhängig von der nachlassenden humanitären Hilfe und voller Angst, zurück nach Somalia geschickt zu werden – einem Land, aus dem Ihre Eltern vor fast dreissig Jahren geflohen sind, das den meisten jungen Menschen in Daadab aber völlig unbekannt ist. Seit die ersten Menschen aus dem Land geflohen sind, hat die Gewalt noch zugenommen. Das unberechenbare Klima mit Dürren und Überschwemmungen hat das Überleben noch schwieriger gemacht. 

Frühere Forderungen nach der Schliessung von Flüchtlingslagern, insbesondere Dadaab, erfolgten nach Terroranschlägen in Kenia. Es wurden unbestätigte Behauptungen aufgestellt, dass die Lager diese Anschläge möglich gemacht hätten. Die Flüchtlinge wurden dadurch noch mehr stigmatisiert.

Die nun erneut geäusserte Absicht Kenias, die Lager überstürzt zu schliessen, scheint aus heiterem Himmel zu kommen. Die Entscheidung wirkt unüberlegt und rücksichtslos. Auch nur in Erwägung zu ziehen, die Camps inmitten einer sich ausbreitenden Pandemie und insbesondere in einer Zeit hoher Instabilität in Somalia zu schliessen, ist gelinde gesagt voreilig und steht im Widerspruch zu allen bewährten Praktiken des Gesundheitswesens und der Menschenrechte. Wird eine solche Entscheidung nicht gut durchdacht, hat sie verheerende Folgen für die Flüchtlinge. Die Menschen in Dadaab müssen den Verhandlungen, bei denen ihre Zukunft auf dem Spiel steht, tatenlos zuschauen.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass Kenia mit der Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtlingen bereits immense Grosszügigkeit bewiesen hat – ganz im Gegenteil zu vielen wohlhabenden Ländern, die ausgeklügelte Wege gefunden haben, die Rechte von Flüchtlingen zu untergraben. Aber die ursprüngliche Solidarität Kenias mit den Flüchtlingen kann nicht damit enden, durch eine abrupte Schliessung der Camps eine neue Krise zu verursachen.

Kenia hat keine Entschuldigung dafür, die Zugbrücke hochzuziehen und die Flüchtlinge gestrandet zurückzulassen, ohne ihnen Möglichkeiten zu bieten, ein menschenwürdiges Leben in Sicherheit und Freiheit zu führen. Flüchtlingslager sind nicht die Lösung – da stimmen wir Kenia zu. Vor allem dann nicht, wenn sie zu einem neuen Zuhause für Jahrzehnte werden. Genau aus diesem Grund fordern wir schon seit einiger Zeit nachhaltige Lösungen für Flüchtlinge.

Kenia kann Flüchtlinge dabei unterstützen, sich vor Ort zu integrieren. Die schnelle Verabschiedung und Durchsetzung des Flüchtlingsgesetzes – das derzeit im kenianischen Parlament debattiert wird – würde Flüchtlingen erlauben, sich frei zu bewegen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und öffentliche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. So könnten sie endlich Entscheidungen treffen, ihr Leben selbst in die Hand nehmen, und – wenn sie ein Sicherheitsnetz haben, auf das sie zurückgreifen können – sogar mutig werden und die kenianische Gesellschaft bereichern. 

Kenia kann – und sollte – nicht alles allein schaffen. Kenias Wirtschaft wurde, wie viele andere auch, von der Pandemie schwer getroffen. Die Staatsverschuldung ist stark angestiegen, und es besteht ein hohes Risiko, dass das Land in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Selbst bei einer kräftigen Erholung werden viele Kenianer es in den nächsten Monate und Jahren nicht leicht haben.

Nur wenige Regierungen leisten humanitäre Hilfe für Menschen, die in Flüchtlingslagern leben. Und selbst diese Mittel schrumpfen. Für dieses Jahr wurden drastische Kürzungen angekündigt, die das Welternährungsprogramm dazu veranlassten, die Lebensmittelrationen um fast 60 Prozent zu reduzieren. 

Die reichen Länder müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Sie müssen die Mittel für Entwicklungsfinanzierung aufstocken und Kenia so beim Ausbau seiner öffentlichen Dienste helfen, um Flüchtlinge in die lokalen Gemeinschaften zu integrieren. Gleichzeitig muss ein ausreichendes Mass an humanitärer Hilfe sichergestellt werden, bis die Lösungen vor Ort vollständig umgesetzt sind.

Auch für multilaterale Institutionen wie die Weltbank ist es an der Zeit, die Suche nach dauerhaften Lösungen für Flüchtlinge voranzutreiben. Gemeinsam mit dem UNHCR muss sie sich darum bemühen, kenianische Gesetzgeber und Behörden an einen Tisch zu bringen, um Möglichkeiten auszuarbeiten, den Flüchtlingen die Integration vor Ort zu ermöglichen.

Dabei darf die Förderung der lokalen Integration allerdings nicht zu einem Outsourcing-Unternehmen für reiche Regierungen werden, bei dem sie ihre Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen durch unregelmässige Zahlungen ersetzen können. Letztes Jahr wurden so wenige Flüchtlinge wie noch nie umgesiedelt. Wohlhabende Regierungen sollten dringend Neuansiedlungen und Alternativlösungen unterstützen und fördern. Angemessene Richtlinien für Sicherheits- und Gesundheitsprüfungen können nun umgesetzt werden. Covid-19 kann nicht länger eine Ausrede sein.

Vor allem müssen die UN und die internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen um Frieden und Stabilität in Somalia wieder verstärken. Allein die Tatsache, dass Dadaab bereits seit dreissig Jahren existiert, ist ein Versagen der Friedensinitiativen in diesem Land.

Zurück in Dadaab könnte die Nachricht, dass die Lager geschlossen werden, der Tropfen sein, der das Fass für die Flüchtlinge zum Überlaufen bringt und ihre Widerstandskraft zerstört. Dies alles passiert zu einer Zeit, in der bereits viele Flüchtlinge, vor allem in Dagahaley, zunehmend unter psychischen Problemen leiden, da es keine Fortschritte bei der Suche nach dauerhaften Lösungen gibt. 2020 haben sich allein in Dagahaley – wo Ärzte ohne Grenzen seit über zehn Jahren Gesundheitsversorgung anbietet – drei Menschen das Leben genommen und 25 weitere haben Berichten zufolge einen Selbstmordversuch unternommen.

In Dadaab fragte ich einen der Flüchtlinge, was er sich für das letzte Kapitel des Lagers wünschen würde. Seine einfache Antwort: «Ich wünsche mir ein Leben in Frieden». 

Auch ich wünsche mir für die Flüchtlinge, dass sie Dadaab eines Tages verlassen können, aber nicht um jeden Preis. Wenn sie die Lager eines Tages verlassen, dann, weil sie sich frei dafür entscheiden. Und Voraussetzung dafür ist, dass ihre Würde, Gesundheit und Freiheit gesichert sind.»

-Adrian Guadarrama arbeitet für Ärzte ohne Grenzen in Genf und ist stellvertretender Programmverantwortlicher für Kenia.