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Medizinische und psychologische Hilfe für Gewaltopfer im Ostkongo
8 Min.
Der Osten der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo) wird seit drei Jahrzehnten von Konflikten erschüttert. 2025 nahm die Gewalt weiter zu. Allein in den ersten sechs Monaten behandelten die Teams von Ärzte ohne Grenzen in den Provinzen Nord-Kivu, Süd-Kivu, Ituri und Maniema über 3600 Menschen wegen gewaltbedingter Verletzungen.
Das hat mehrere Gründe: Zum einen lieferten sich die kongolesische Armee, die Rebellen-Gruppe Alliance Fleuve Congo (AFC)/M23 und ihre jeweiligen Verbündeten immer heftigere Gefechte. Zum anderen verschoben sich die Frontlinien immer weiter in Richtung der Einsatzgebiete von Ärzte ohne Grenzen in Nord- und Süd-Kivu.
«Ich bin im Krieg geboren. Ich kenne nichts anderes», sagt der 20-jährige Floribert*, der am Bein angeschossen wurde. Er ist einer von rund einem Dutzend Patient:innen mit Schussverletzungen, die unsere Teams im Spital von Mweso in Nord-Kivu behandeln. «Frieden wird es hier so schnell nicht geben.»
Unsere Teams versorgen jeden Tag zahlreiche Menschen, die bei Offensiven und Gefechten in der Region schwer verletzt wurden.
Die Zivilbevölkerung trifft es am härtesten
Im Osten der DR Kongo sind über hundert bewaffnete Gruppen aktiv. Rechnet man kleinere Splittergruppen hinzu, sind es sogar mehrere hundert. In der Region überlagern sich viele verschiedene Konflikte, die alle ihre ganz eigene Dynamik haben.
Die Gewalteskalation im Jahr 2025 hat vielfältige Ursachen. Hauptleidtragend ist jedoch immer die Zivilbevölkerung.
Menschen im Geflüchtetencamp Kashaka westlich von Goma tragen Wasserkanister.
Das ganze Jahr über wurden unsere Teams immer wieder Zeugen von Gewaltausbrüchen und gerieten dabei auch selbst ins Visier der Angriffe. Der Zustrom an Verletzten in den Gesundheitseinrichtungen riss nicht ab. Die Patient:innen berichteten von Massakern, Entführungen, Misshandlungen und sexualisierter Gewalt. Zum Teil werden Zivilpersonen gezielt angegriffen, zum Teil geraten sie zwischen die Fronten.
Die meisten der von uns behandelten Verletzten sind Zivilpersonen – in Mweso bis zu 80 Prozent. Am häufigsten sind Schussverletzungen. Viele der eingelieferten Patient:innen wurden jedoch auch Opfer von Messerangriffen, Bombardierungen oder Folter.
Im inzwischen beendeten Projekt in Salamabila in der Provinz Maniema haben wir im ersten Halbjahr 2025 366 Fälle von Gewalt registriert. Der Grossteil dieser Menschen war ausgepeitscht worden. Man warf ihnen vor, dass sie die «Steuer» nicht bezahlt hatten, welche die bewaffnete Gruppe, die eine wichtige Goldmine in der Region kontrolliert, erhoben hatte.
Ein Patient konnte zehn Tage lang nur auf dem Bauch liegen, weil die Wunden an seinem Rücken so tief waren
Junge Männer machen zwar den Grossteil der Verletzten aus, doch auch Frauen und Kinder bleiben nicht verschont. Knapp ein Drittel der von Januar bis September 2025 im Salama-Spital in Bunia (Ituri) behandelten 333 Gewaltopfer waren Frauen. Jede siebte Person war minderjährig.
Ein neunjähriges Kind wurde mit einem Bauchschuss eingeliefert. Es hatte mitansehen müssen, wie seine Mutter und seine Geschwister mit Macheten getötet wurden.
Sexualisierte Gewalt
Nicht nur Angriffe mit Schusswaffen und Gewaltandrohungen sind an der Tagesordnung. Auch das Ausmass sexualisierter Gewalt, zumeist an Frauen, nimmt immer weiter zu.
Ein junges Mädchen, das sexualisierter Gewalt überlebt hat, in der Triage des Gesundheitszentrums Mugunga 3 in Goma
Im ersten Halbjahr 2025 betreuten unsere Teams in den Provinzen Nord-Kivu, Süd-Kivu, Ituri und Maniema rund 28 000 Überlebende sexualisierter Gewalt. 97 Prozent davon waren Frauen und Mädchen, 10 Prozent minderjährig.
Eine von ihnen ist die 35-jährige Mona* aus Minova (Süd-Kivu). «Gestern Abend gegen neun Uhr ging ich zu meinem Bruder und ass dort zu Abend. Auf dem Heimweg kamen mir vier Männer entgegen, einer war bewaffnet. Sie rissen mir meinen Pagne, meinen Wickelrock, ab und verbanden mir damit die Augen. Einer würgte mich, während die anderen mich vergewaltigten. Jetzt will mich mein Vermieter aus dem Haus werfen, weil er keine Scherereien will.»
Bei den Tätern handelt es sich zumeist um bewaffnete Männer, die den verschiedenen Konfliktparteien angehören.
Ohne den Krieg gäbe es deutlich weniger sexualisierte Gewalt. Die meisten Vergewaltigungen werden von bewaffneten Männern begangen, oft wenn die Frauen aufs Feld gehen oder Essen suchen
«Die Lage ist dramatisch: Viele Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, trauen sich nicht mehr aus dem Haus, ihre Kinder hungern. Einige entwickeln psychische Probleme.»
Ärzte ohne Grenzen gehört zu den wenigen Organisationen, die im Osten der DR Kongo eine umfassende medizinische und psychologische Betreuung für Überlebende sexualisierter Gewalt anbieten können. Viele andere Partnerorganisationen mussten ihre Aktivitäten aufgrund der massiven Budgetkürzungen bei humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zurückfahren oder ganz einstellen.
Seelische Narben
Die Gewalt im Osten der DR Kongo hinterlässt nicht nur körperliche, sondern auch seelische Wunden.
In Mweso werden jede Woche zwischen zwei und fünf Menschen wegen psychischer Erkrankungen ins Spital eingewiesen.
Wenn man beschossen, vertrieben, überfallen oder vergewaltigt wird – oder ständig Schüsse hört – wirkt sich das natürlich auch auf die psychische Gesundheit aus. Viele Menschen leben in grosser Not und unter lebensbedrohlichen Bedingungen. Dadurch fällt es ihnen oft schwer, über ihre Angst zu sprechen. Bei manchen äussert sich die Angst dann in plötzlichen Wutausbrüchen oder einer Dissoziation. Die Patient:innen rennen mitunter schreiend und panisch aus dem Haus und fliehen in den Wald. Bei anderen führt die Angst zu katatonen Zuständen. Sie essen, sprechen und reagieren nicht mehr und starren ins Leere.
Der Bedarf an psychologischer Unterstützung ist enorm. Allein im Referenzspital von Masisi wurden von Januar bis Juli knapp 2000 psychologische Sprechstunden durchgeführt.
Bisgod Sifumungu, Supervisor bei Ärzte ohne Grenzen, besucht Patient:innen im Referenzspital von Mweso
«In Konflikt- und Post-Konflikt-Situationen sind psychologische Betreuungsmöglichkeiten sehr wichtig, um das Leid unserer Patient:innen zu lindern», erklärt Charli Shako Omokoko, Supervisorin der psychosozialen und psychologischen Hilfsangebote von Ärzte ohne Grenzen. Dies ändert aber natürlich nichts an den Ursachen.
«Wir geben unser Bestes, um unseren Patient:innen zu helfen. Aber sobald sie das Spital verlassen, kehren sie wieder in ein unsicheres Umfeld zurück. Oft haben sie nicht genug zu essen und kein Zuhause.»
Spitäler unter Beschuss
Die Gewalt macht selbst vor medizinischen Einrichtungen – und damit auch vor unseren Mitarbeitenden und Patient:innen – nicht halt.
In den ersten Monaten des Jahres 2025 wurden vor dem Spital von Masisi mehrere Zivilpersonen verletzt oder getötet, als bewaffnete Gruppen um die Kontrolle der Stadt kämpften. Einige unserer Mitarbeitenden wurden bei diesen Gefechten verwundet. Ein Kollege wurde getötet, als Schüsse unsere Einrichtung trafen. Einige Wochen später wurde ein weiterer Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen in seinem Haus erschossen. Insgesamt kamen 2025 drei unserer Mitarbeitenden in Nord-Kivu ums Leben.
Im Oktober wurden innert einer Woche zwei von uns unterstützte Gesundheitszentren in den Territorien Masisi und Rutshuru von Querschlägern getroffen. Auch andere medizinische Einrichtungen blieben nicht verschont.
Seit Anfang 2025 waren unsere Teams im Osten der DR Kongo, von Tshopo bis Süd-Kivu, mit zahlreichen Sicherheitsvorfällen konfrontiert. Kämpfer verschiedener bewaffneter Gruppen, unter anderem die kongolesischen Streitkräfte und ihre Wazalendo-Verbündeten sowie die Alliance Fleuve Congo (AFC)/M23, verstiessen wiederholt gegen humanitäres Völkerrecht. Sie drangen in Gesundheitseinrichtungen ein, feuerten Schüsse ab, bedrohten oder griffen Mitarbeitende und Patient:innen an.
Im April 2025 kam es dabei im Spital von Kyeshero in Goma zu einem tödlichen Vorfall und mehrere Menschen wurden verletzt. In Walikale beschädigten Angreifer unsere Fahrzeuge und unsere Einrichtung. Im Spital von Uvira fielen ebenfalls Schüsse. Unseren Ambulanzen wurde der Weg zu den Gesundheitseinrichtungen versperrt. Ausserdem brachen vor Kurzem bewaffnete Männer in die Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen in Kisangani (Tshopo) ein.
Bewaffnete Gewalt bedroht die Gesundheitsversorgung
Durch die jahrzehntelangen bewaffneten Auseinandersetzungen und die chronische Unterfinanzierung des Gesundheitssystems steht die medizinische Versorgung im Osten der DR Kongo am Rande des Kollaps.
Auch 2025 wurden zahlreiche Gesundheitseinrichtungen geplündert. Viele Gesundheitsfachpersonen flüchteten vor der zunehmenden Gewalt. Aufgrund der anhaltenden Kämpfe kann das medizinische Personal die Patient:innen oft nicht erreichen – und umgekehrt.
«Viele Verletzte kommen erst Tage später und in kritischem Zustand ins Spital. Ihre Überlebenschancen sinken dadurch erheblich», erklärt Dr. Bassirou Amani, Verantwortlicher von Ärzte ohne Grenzen im Referenzspital von Rutshuru. Es ist das einzige Spital im Territorium Rutshuru, in dem knapp eine Million Menschen leben, das über ausgebildetes Personal und die nötige Ausstattung verfügt, um unfallchirurgische Eingriffe vorzunehmen.
Desinfektion von OP-Instrumenten im Referenzspital von Rutshuru, das als einziges im Territorium über Kapazitäten für chirurgische Eingriffe verfügt.
Die wachsende Unsicherheit hat nicht nur das Gesundheitssystem geschwächt, sie führte auch zu einem Rückgang der Impfungen, massiven Fluchtbewegungen und einem Anstieg der Mangelernährung.
In den letzten Jahren hat der Konflikt eine neue Dimension erreicht. Der Luftangriff auf Bibwe im September und der verstärkte Einsatz von Drohnen in Nord- und Süd-Kivu mehren die Sorgen vor einer weiteren Eskalation der Gewalt mit noch mehr Toten und Zerstörung.
«Durch die Gewalt im Osten der DR Kongo wird das Gesundheitssystem, das durch die jahrzehntelange Unsicherheit und Unterfinanzierung bereits massiv angeschlagen ist, weiter geschwächt», sagt Emmanuel Lampaert, Landesvertreter von Ärzte ohne Grenzen. «Es ist eine Tragödie für die Verletzten, Getöteten, Überlebenden sexualisierter Gewalt und ihre Familien und für die Gemeinschaften, die auf der Flucht sind und keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Nahrung oder anderen lebenswichtigen Gütern haben.»
«Ärzte ohne Grenzen will weiterhin allen betroffenen Menschen auf beiden Seiten der Front unparteiisch helfen. Doch auch im Krieg gelten Regeln. Wir fordern alle bewaffneten Gruppen auf, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und insbesondere Zivilpersonen sowie Gesundheitseinrichtungen zu schützen und einen sicheren Zugang für medizinisches Personal und zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten.»
* Die Namen wurden zum Schutz der Patient:innen und Mitarbeitenden geändert.