Hilfe, die über die Krise hinaus geht – Interview mit Dr. Marie-Pierre Allié

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Marie-Pierre Allié, die Präsidentin der französischen Sektion von MSF, ist kürzlich von einer Reise in den Niger zurückgekehrt. Sie berichtet von ihren Eindrücken, von der Rolle ihrer Organisation im Land und von neuen Ansätzen im Kampf gegen Mangelernährung.

Wie ist Ihre Einschätzung der Situation?
Der Niger leidet zurzeit ganz eindeutig an einer schweren Nahrungs- und Ernährungskrise. Die schwachen Regenfälle des vergangenen Jahres führten zu einer schlechten Ernte. Und dies in einer Region, deren Nahrungsmittelmarkt durch kontinuierlich steigende Preise zusätzlich geschwächt ist.
Die aktuellsten Zahlen über die nationale Ernährungssituation zeigen, dass in einigen südlichen Regionen die Mangelernährungsrate bei Kindern den Notfallgrenzwert von 15 Prozent überschritten hat. In manchen Regionen, zum Beispiel in Maradi, wo wir tätig sind, leidet jedes fünfte Kind an akuter Mangelernährung. Vier Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind von der schwersten Form von Mangelernährung betroffen.
Manche sprechen von einer Hungersnot und einer „Krise nie dagewesenen Ausmasses“. Ist das richtig?
Wir sollten mit unserer Wortwahl vorsichtig sein, da solche extremen Aussagen kontraproduktiv sein können. Es ist auch ohne die Situation zu dramatisieren oder in Extreme zu verfallen klar, dass die Lage ernst ist, die Ernährungsindikatoren alarmierende Werte zeigen und angemessene Hilfe organisiert werden muss.
Auch wenn die diesjährige Krise sicherlich schwerer ist, unterscheidet sie sich nicht wesentlich von denen, die das Land in den vergangenen Jahren erlebt hat. Bedauerlicherweise erleben wir eine Krise, die sich jedes Jahr ereignet und sich lediglich im Stärkegrad von den vorhergehenden Krisen unterscheidet.
Wichtig ist, die Krisen nicht nach ihrer Schwere zu gewichten – was auch äusserst kompliziert wäre – sondern sich darauf zu konzentrieren, dass diese Krisen regelmässig auftreten. 
Unterscheidet sich die diesjährige Krise von der von 2005?
Ja, im Umfang und Qualität der Hilfe. Beide haben sich seit 2005 wesentlich verändert. 2005 wurde nur langsam auf die Krise reagiert. Zum einen, weil das damalige Regime das Problem nicht anerkennen wollte, zum anderen weil effektive Warnsysteme und Hilfsmechanismen fehlten. MSF schlug Alarm und forderte den Einsatz internationaler Hilfe und die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden.
Zu dieser Zeit wurde viel über „therapeutische Fertignahrung“ gesprochen.
Das war das erste Mal, dass diese neuen Produkte in einem grossen Rahmen eingesetzt wurden und uns erlaubten, Fälle schwerer Mangelernährung ambulant zu behandeln. Dank dieser Strategie war MSF in der Lage, 63’000 mangelernährte Kinder zu behandeln. Zuvor war es unmöglich, so viele Kinder zu behandeln, weil sie stationär aufgenommen werden mussten, was mit grossem Aufwand und hohen Kosten verbunden war. Seit 2005 haben die nigrischen Gesundheitsbehörden diese neuen Strategien zur Behandlung von Mangelernährung übernommen und konnten so die Zahl der Kinder, die behandelt werden, erhöhen.
Dennoch scheint die nigrische Regierung seit 2005 weniger offen mit dem Thema Mangelernährung umzugehen.
Ja, das ist ziemlich paradox. Präsident Tandja entschloss sich, den Ernst der Lage und die Notwendigkeit von angemessener Hilfe zu leugnen. 2008 wurde die französische Sektion von MSF gezwungen, das Land zu verlassen.
Dennoch sind einige wichtige Änderungen eingetreten: So gibt es etwa neue Vorschriften zur Behandlung von Mangelernährung, kostenlose medizinische Versorgung für Kinder unter fünf Jahren, neue - von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene - Methoden zur Bestimmung von Mangelernährung und die oben erwähnte therapeutische Fertignahrung wird nun im Land hergestellt.
Mit welchen Massnahmen ist man der diesjährigen Krise gegenüber getreten?
Die neuen nigrischen Behörden begannen im März die internationale Gemeinschaft auf den Ernst der Lage hinzuweisen. Sie organisierten Getreideverkäufe zu niedrigen Preisen und kostenlose Nahrungsmittelausgaben. Ausserdem sollte der Notfallplan die Behandlung von mehr als 300’000 mangelernährten Kindern ermöglichen. Das sind viermal so viele wie im Jarh 2005.
Gleichzeitig sind umfassende präventive Massnahmen Teil der Herangehensweise.  Diese beinhalten auch Ergänzungsnahrung für Kinder, welche die anfälligste Bevölkerungsgruppe für Mangelernährung darstellt.
Können die Bedürfnisse gedeckt werden?
Wir können mit Sicherheit sagen, dass die Anstrengungen ehrgeizig sind und es sicher möglich ist, viele Kinder zu retten. Der Notfallplan wurde weiterentwickelt, als sich die Situation veränderte. Leider wurden nicht sofort die Regionen abgedeckt, die am meisten von Mangelernährung bei Kindern betroffen waren. Stattdessen erhielten Regionen mit Defiziten in der landwirtschaftlichen Produktion Vorrang. Das Problem ist die Reaktion auf Notfälle: Kinder zu behandeln, die bereits an Mangelernährung leiden, erfordert erhebliche Ressourcen. Die Massnahmen, die zur Prävention von Mangelernährung getroffen wurden, sind ein guter Ansatz, um über diesen Punkt hinaus zu kommen und schneller zu reagieren.
Es wird besonders wichtig sein, diese Massnahmen aufrecht zu erhalten, auch nachdem der schwerste Teil der Krise vorüber sein wird. Sie müssen systematisch implementiert werden, um die schweren Ernährungskrisen zu verhindern, die jährlich zwischen Juni und Oktober auftreten.
Welche Rolle spielt dabei MSF?
Teams von MSF sind in den Regionen tätig, die von der Krise an schlimmsten betroffen sind: Tahoua, Maradi, Zinder und Agadez.
Wir haben unsere Programme ausgebaut und betreiben nun acht stationäre und etwa 60 ambulante Ernährungszentren in Zusammenarbeit mit den nigrischen Gesundheitsbehörden. Seit Januar haben wir rund 65’000 Kinder behandelt und erwarten dieses Jahr, insgesamt etwa 150’000 zu behandeln.
Zusätzlich organisieren wir in den Gebieten, in denen wir tätig sind, Nahrungsmittelausgaben für Kinder im Alter von sechs Monaten bis zwei Jahre. So sollte es uns möglich sein, die Zahl der mangelernährten Kinder in der zweiten Hälfte der Saison wesentlich zu verringern. Wir hoffen ausserdem, diese Nahrungsmittelverteilungen auch nach der Krise fortführen zu können, um einer Ernährungskrise im Jahr 2011 zuvorzukommen.  

Die französische Sektion von MSF ist in den Niger zurückgekehrt. Was bedeutet das?

Es zeigt den Willen der nigrischen Behörden und MSF, die gemeinsamen Anstrengungen in Bezug auf die pädiatrischen Probleme und die Ernährungsschwierigkeiten im Land wieder aufzunehmen. Dazu arbeiten wir auch mit der nigrischen medizinischen Nichtregierungsorganisation Forsani zusammen. Die Entscheidung, diese Organisation zu unterstützen, fiel, als die französische Sektion das Land Ende 2008 verlassen musste. 2009 wurden durch die Zusammenarbeit in Mandarounfa mehr als 12’600 schwer mangelernährte Kinder behandelt.
Wir hoffen, durch die Zusammenarbeit mit diesen jungen nigrischen Ärzten, den Gesundheitsbehörden und anderen Hilfsakteuren nachhaltige Behandlungsmethoden und Präventionsprogramme entwickeln zu können.

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