Geflüchteten und Vertriebenen mit Würde begegnen

Sites de distribution d'eau à Djibo

10 Min.

Ende 2022 galten mehr als 108,4 Millionen Menschen auf der ganzen Welt als zwangsvertrieben. Dies entspricht einem Anstieg von 19 Millionen Menschen gegenüber Ende 2021 und ist die stärkste Zunahme im Vorjahresvergleich, die das Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) jemals verzeichnet hat. Über die Hälfte der Projekte von Ärzte ohne Grenzen richten sich an Menschen, die aufgrund von Gewalt, Unsicherheit und/oder den Folgen des Klimawandels auf der Flucht sind. Überall auf der Welt sind unsere Teams unermüdlich im Einsatz, um diesen Familien, die alles verloren haben, Hoffnung zu schenken. In diesem Artikel stellen wir Ihnen unsere Projekte vor.

«Ich war für einige Tage zu Besuch im Dorf meines Grossvaters», erzählt Mohammed Dikko Abdullahi, Assistent des MSF-Projektkoordinators in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno im Norden von Nigeria. «Ich begegnete einem Mann, der mich gesucht hatte. Er erzählte mir, dass sein Kind seit drei Wochen krank sei und er nirgendwo Hilfe finde. Ich erklärte ihm den Weg zum Spital von Ärzte ohne Grenzen in Maiduguri. Als ich am Montagmorgen ins Büro kam, stand er zusammen mit seiner Frau und seinem Kind ganz vorne in der Schlange vor dem Portal. Nach einer Untersuchung wurde das Kind wegen schwerer Mangelernährung stationär betreut. Der Vater erzählte mir, dass er und seine Familie wegen des Konflikt ihr Zuhause verlassen mussten und vor Kurzem in Maiduguri angekommen waren. Er hatte noch keine Arbeit gefunden, so dass es sehr schwierig war, die Familie zu ernähren. Und solche Geschichten gibt es so viele ...».

Mit mehr als 5,2 Millionen Menschen, die durch Gewalt vertrieben wurden (Quelle: Internationale Organisation für Migration, September 2023), ist das Tschadseebecken Schauplatz einer der grössten humanitären Krisen auf dem afrikanischen Kontinent. Die Übergriffe und das Ausmass der Gewalt haben die ohnehin schon kritische Situation, die durch extreme Armut, Ernährungsunsicherheit, häufige Epidemien und ein angeschlagenes Gesundheitssystem gekennzeichnet ist, weiter verschärft. Im Bundesstaat Borno in Nigeria, im Süden des Niger, im Tschad und im Norden von Kamerun bieten die Teams von Ärzte ohne Grenzen medizinische Grundversorgung, Ernährungshilfe, psychologische und chirurgische Unterstützung an. Zudem führen sie in den Dörfern, Städten und Vertriebenen- und Geflüchtetencamps Impfkampagnen durch. Mohammed Dikko Abdullahi fügt hinzu: «Die Gewalt zwingt zahlreiche Familien dazu, ihre Felder zu verlassen und die Flucht zu ergreifen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie haben nichts mehr zu essen. Als ich zwei Tage später beim Spital vorbei ging, hatte die Familie ein Lächeln auf den Lippen. Das ist der befriedigendste Teil meiner Arbeit: Wenn unsere Patient:innen wieder lächeln können. Zu wissen, dass wir etwas bewirkt haben.»

Die positiven Auswirkungen, von denen Mohammed Dikko Abdullahi spricht, treiben die Teams von Ärzte ohne Grenzen  täglich an – insbesondere bei ihrer Arbeit mit Geflüchteten und Vertriebenen. 2020 richteten sich 57 Prozent der Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen an Betroffene von Konflikten und Zwangsumsiedlungen. Laut dem Bericht «Global Trends, Forced Displacements in 2022» des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) sind weltweit 108,4 Millionen Menschen zwangsvertrieben, darunter 29 Millionen Flüchtlinge und 54,4 Millionen Asylsuchende (siehe rote Infobox am Ende des Artikels). 76 Prozent finden in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen Zuflucht – und damit meist in einer Umgebung, in der das Gesundheitssystem bereits überlastet ist. Aus diesem Grund werden Vertriebene oder Geflüchtete nicht immer mit offenen Armen empfangen. Im Exil zu leben bedeutet, gleichzeitig zu sichtbar und unsichtbar zu sein; ignoriert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Durch diese ablehnenden Haltung geht auch jede Spur von Menschenwürde verloren. Menschen, die auf der Flucht vielleicht Freunde und Familie verloren haben, müssen oft unter erbärmlichen Lebensbedingungen in Lagern leben, in denen der Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung kaum vorhanden ist.

Auswirkungen auf die Gesundheit

«Egal, ob die Menschen unterwegs sind oder in Lagern ausharren – Vertriebenen stehen de facto keine medizinischen Dienste zur Verfügung», erklärte Christine Jamet, ehemalige Einsatzleiterin von Ärzte ohne Grenzen. «Man weiss, dass bei Bevölkerungsbewegungen die Bedürfnisse in die Höhe schnellen. Die Flüchtenden sind medizinischen Risiken stärker ausgesetzt, man denke an Durchfallerkrankungen aufgrund von verschmutztem Trinkwasser oder Atemwegsinfektionen, die sie sich in überfüllten Lagern leicht zuziehen können. Besonders gefährdet sind Menschen mit chronischen Leiden. Flüchtende setzen oft gezwungenermassen ihre Medikamente ab, was nicht selten zu Komplikationen führt, die eine Hospitalisierung nötig machen. In diesen Momenten der extremen Verwundbarkeit ist es unsere Aufgabe, ihnen beizustehen.»

Die anhaltende Gewalt in Djugu in der Provinz Ituri in der DR Kongo hat die angespannte humanitäre und Sicherheitssituation weiter verschärft. Die 52-jährige Bäuerin Suzanne ergriff 2021 mit drei Kindern die Flucht. Erst liess sich die Familie in Ivo nieder, später dann im Lager in Rhoe. 40 000 Vertriebene leben in dieser schwer zugänglichen Zone, wo auch die Arbeit von Hilfsorganisationen durch Sicherheits- und Logistikprobleme behindert wird. «Die Betroffenen kämpfen mit verschiedenen Herausforderungen – mit der eisigen Kälte etwa und dem Mangel an Unterkünften oder Latrinen», erklärt Dr. Benjamin Safari, der für Ärzte ohne Grenzen in Drodro arbeitet. Bewaffnete Gruppen haben eine massive Bevölkerungsbewegung ausgelöst. Auch medizinische Mitarbeitende sind unter den Flüchtenden, die folglich nicht mehr für ihre Patient:innen da sein können. «Der Bedarf an medizinischen Leistungen ist überwältigend.  Wir haben verschiedene Aktivitäten lanciert, um unseren Einsatz hochzufahren – insbesondere für Kinder bis 15 Jahre», so Safari. Patient:innen, die eine intensivere Behandlung benötigen, sollten ursprünglich an das besser ausgestattete allgemeine Referenzspital in der Stadt Drodro überwiesen werden. Denn auf schwere Fälle war die im Lager eingerichtete MSF-Klinik nicht ausgelegt. Nach den jüngsten Gewalthandlungen, die Teile von Drodro zerstörten und die Menschen in das Lager Rhoe vertrieben, wandelten unsere Teams die Klinik jedoch in ein Feldspital um. Jetzt steht es den mehr als 65 000 Menschen offen.

In Burkina Faso, in der Sahelzone, liegt Djibo. Das Dorf zählt mit 228 000 vertriebenen Personen bis heute mehr Vertriebene als lokale Einwohner:innen. 20 Prozent der Geflüchteten sind Kinder unter fünf Jahren. Die Unsicherheit in der Umgebung und der demografische Druck schränken den Zugang zu medizinischer Versorgung jeden Tag ein Stück mehr ein. Die Menschen sind daher gezwungen, ständig weiterzuziehen, um zu überleben. Der Klimawandel verschärft die Situation zusätzlich, was in der Regenzeit besonders zu spüren ist. Sie bringt heftigere Regenfälle mit sich, wodurch die Anzahl Mücken über stehenden Gewässern steigt. Erhöhte Malaria- und Dengue-Erkrankungen sind die Folge. Malaria ist in den verschiedenen Dörfen des Distrikts Djibo bei Vertriebenen und lokalen Einwohner:innen die häufigste Todesursache. 

Deshalb arbeiten unsere Teams eng mit dem lokalen Gesundheitsministerium zusammen. Wir behandeln Erkrankte und fördern die Prävention durch saisonale chemische Prophylaxe und die Moskitonetze, die wir an die Bevölkerung verteilen. Ein weiteres grosses Problem sind wasserbedingte Krankheiten wie Cholera. Sie verbreiten sich nach Überschwemmungen aufgrund des erschwerten Zugangs zu  sauberem Trinkwasser besonders schnell. Die MSF-Teams informieren über die Risiken und versorgen die Bevölkerung zudem kostenlos mit sauberem Wasser, indem sie alte Bohrlöcher rehabilitieren oder neue Brunnen errichten.

Seit der Gründung der Organisation steht Ärzte ohne Grenzen Vertriebenen und Geflüchteten zur Seite. Heute geht der humanitäre Auftrag jedoch weit über die rein medizinische Versorgung hinaus.

Mehr als medizinische Hilfe

«Unsere Aktivitäten beschränken sich nicht auf das rein Medizinische», so Christine Jamet. Wir hören uns die Geschichten unserer Patient:innen an, versuchen ihr Leid nachzuvollziehen. Auch ist uns daran gelegen, die Gesamtsituation zu verbessern. Die medizinische Behandlung ist ein Hebel, der es uns erlaubt, Entscheidungsträger:innen für den nötigen Wandel zu sensibilisieren. In Gebieten, in denen die Bevölkerung politisch unterdrückt wird, will Ärzte ohne Grenzen den Menschen eine Stimme verleihen. Dies ist in Latein- und Mittelamerika der Fall, wo unsere Teams in den Grenzgebieten aktiv sind. Dort versorgen sie vertriebene Bevölkerungsgruppen, die in der Einöde ausharren müssen und von jeglicher Basisversorgung abgeschnitten sind.

In Kenia sind unsere Teams im Lager Dadaab im Einsatz. Doch bald soll das Camp geschlossen werden. Die Menschen, die dort zum Teil bereits seit 30 Jahren leben, würden dadurch komplett von der Versorgung ausgeschlossen werden – so gering diese aktuell auch sein möge. 
Auf der griechischen Insel Samos behandeln unsere Teams Neuankömmlinge direkt bei ihrer Ankunft, wodurch sie ihnen eine gewisse Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verleihen – und Schutz gewähren.

Ärzte ohne Grenzen hat im November 2023 einen Bericht veröffentlicht, mit einer konsolidierten Übersicht der medizinischen Daten der letzten fünf Jahre. Im Dokument wird auf die Verantwortung der Europäischen Union (EU) und deren Migrationspolitik eingegangen, die die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Sicherheit von geflüchteten Menschen wissentlich in Gefahr bringt. Die Expert:innen für psychische Gesundheit betreuen hunderte Menschen aufgrund von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen. Viele Betroffene äussern ihren Schmerz in autoaggressivem Verhalten bis hin zu Suizidversuchen. Dennoch haben die EU und die griechische Regierung im September 2021 auf der Insel Samos ein neues Auffangzentrum für Geflüchtete errichtet – ein Lager, das eher einem Gefängnis gleicht und aus Geflüchteten und Asylsuchenden Häftlinge macht. Indem man Menschen in Lager sperrt, bestraft man sie für Taten, die sie nie begangen haben. Ihr einziges «Vergehen» ist der verzweifelte Versuch, sich und ihre Angehörigen in Sicherheit zu bringen. «Die bürokratischen Prozesse können wir nicht beeinflussen», so Christine Jamet. «Doch wir können dazu beitragen, dass dieses Thema nicht von der europäischen Agenda verschwindet.»

Die Zahl der schutzbedürftigen Menschen steigt Jahr für Jahr. Es handelt sich überwiegend um Menschen, die ununterbrochen unterwegs sind – nicht, weil sie das wollen, sondern weil sie aus Sicherheitsgründen dazu gezwungen sind. Der Hilfsbedarf ist immens, die Reaktion vieler Staaten alles andere als angemessen. Humanitäre Hilfsorganisationen können nicht allein überall aktiv werden, wo Hilfe gebraucht wird. «Auch wenn wir niemals alles Leid dieser Welt lindern können, bin ich davon überzeugt, dass unser Handeln einen Unterschied macht», schliesst Christine Jamet. Ein Leben auf der Flucht bringt Chaos mit sich und stiftet Unruhe. In unseren Einrichtungen schaffen unsere Teams kleine, sichere Oasen für die Menschen. Es ist wichtig, dass wir auch in Zukunft diese Momente der Solidarität und Würde pflegen. Denn genau dann entstehen wertvolle Begegnungen, von Mensch zu Mensch, auf Augenhöhe. 

Das UNHCR definiert Menschen, die vor Konflikten oder Verfolgung fliehen, als Flüchtlinge. Ihr Status ist durch internationales Recht geschützt. So können sie nicht in Länder oder Gebiete zurückgeschickt werden, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit in Gefahr sind. Dieser Grundsatz der Nichtzurückweisung ist in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 festgelegt. Asylbewerber:innen sind Personen, die in einem Drittland Asyl beantragt und damit um Schutz vor Verfolgung gebeten haben. Ihr Verfahren ist jedoch nicht abgeschlossen. Es ist noch offen, ob sie den Flüchtlingsstatus erhalten, und sie blicken in eine völlig ungewisse Zukunft. Bei massiven Bevölkerungsbewegungen aus Kriegsgebieten können alle Mitglieder dieser Gruppe ohne langwieriges Verfahren als Flüchtlinge anerkannt werden („prima facie“). Dies etwa, weil die Kapazitäten strapaziert oder die Fluchtgründe offensichtlich sind – wie bei den Menschen aus der äthiopischen Konfliktregion Tigray, die im Dezember 2020 im Sudan Zuflucht suchten.