Sudan: Wir müssen Leben retten – die Zeit wird knapp
© MSF/Ala Kheir
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Am 15. April 2023 brachen in weiten Teilen des Sudans Kämpfe zwischen der sudanesischen Armee und den Rapid Support Forces (RSF) aus. Hunderte Menschen starben dabei, Tausende wurden verletzt. Das Gesundheitssystem steht am Rande des Zusammenbruchs. Vielen Menschen bleibt der Zugang zu medizinischen Diensten versperrt. Der Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Schweiz Stephen Cornish berichtet über die aktuelle Lage.
«Wer glaubt, die aktuellen Kämpfe im Sudan seien eine Notlage, die sich plötzlich aufgetan hat, irrt sich. Es gibt eine lange Vorgeschichte. Der aktuelle Konflikt ist lediglich ein akutes Symptom der Krise, die das Land seit Jahrzehnten fest im Griff hält. Die sudanesische Bevölkerung leidet schon viel zu lange unter den politischen Unruhen und der wirtschaftlichen Instabilität. Der humanitäre Bedarf spitzt sich immer weiter zu; unzählige Sudanes:innen kämpfen ums Überleben.
Zahlreiche Herausforderungen für die Bevölkerung
Letztes Jahr erreichte der Bedarf an humanitärer Hilfe den höchsten Stand seit zehn Jahren. Die Bevölkerung ist mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, dazu gehören anhaltende gewaltsame Konflikte und Ernährungsunsicherheit. Schwere Überschwemmungen verdeutlichten, wie sehr sich der Klimawandel bereits auf das Land auswirkt. Zudem spitzen erneute Kämpfe zwischen bewaffneten Gruppen in den Bundesstaaten Darfur, Kordofan und Blauer Nil die Situation weiter zu. Mehr als 3 Millionen Menschen wurden vertrieben – rund 2,5 Millionen davon in Darfur.
Auch der Sudan hat über eine Million Geflüchtete aus Nachbarländern wie dem Südsudan und Äthiopien aufgenommen. Es handelt sich um Menschen, die vor Gewalt und Armut in ihrer eigenen Heimat geflohen sind und nun inmitten eines weiteren Konflikts ausharren müssen.
Ein Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps
Im Vorfeld des aktuellen Konflikts schlugen unsere Teams bereits Alarm. Sie wiesen auf die kritischen Bedürfnisse der Menschen in West-Darfur und das geschwächte Gesundheitssystem hin und riefen dazu auf, die humanitäre Hilfe in der Region hochzufahren. Den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und den rasanten Anstieg des medizinischen und humanitären Bedarfs im ganzen Land haben unsere Teams aus nächster Nähe erfahren. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen ist der Hilfsbedarf seit Dezember 2022 um 57 Prozent gestiegen.
Seit dem 15. April 2023 machen heftige Kämpfe, Luftangriffe und Grossplünderungen den Menschen in Khartum und anderen Staaten das Leben schwer. Es wurde eine neue Welle der Vertreibung von 1,4 Millionen Zivilist:innen gemeldet, wobei Frauen und Kinder besonders betroffen waren. Die anhaltende Gewalt hat zu einer Verknappung von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff geführt. Die Marktpreise sind in die Höhe geschnellt, während der Zugang zu medizinischer Versorgung immer schwieriger wird. In Khartum, El Geneina, Zalingei und anderen Städten und Dörfern finden weiterhin heftige Kämpfe statt. Zahlreiche Menschen sind an diesen Orten eingekesselt, während Hunderttausende in sicherere Teile des Landes oder ins Ausland fliehen.
Trotz immenser Hindernisse tun wir alles dafür, die Menschen im Sudan bestmöglich zu unterstützen.
Wir sorgen unter anderem dafür, dass Kranke und Verletzte eine grundlegende Gesundheitsversorgung erhalten. Unsere Teams sind derzeit in zehn Staaten des Sudans im Einsatz. Sie behandeln Kriegsverletzte in Khartum und Nord-Darfur, regeln die Wasser- und Sanitärversorgung für Geflüchtete, Vertriebene und lokale Gemeinschaften in den Staaten Al-Gedaref und Al-Jazeera und statten Gesundheitseinrichtungen im Sudan mit medizinischen Gütern aus.
Angriffe auf Mitarbeitende und Spitäler sind nicht akzeptabel
Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und die Missachtung des zivilen Lebens erschweren es uns zurzeit, lebenswichtige Gesundheitsleistungen zu erbringen. So mussten wir beispielsweise in Nyala in Süd-Darfur unsere Aktivitäten einstellen, nachdem eines unserer Lagerhäuser am 16. April gewaltsam geplündert worden war. In Khartum wurde ein weiteres Lagerhaus geplündert und besetzt, wobei medizinische Hilfsgüter, Treibstoff und Fahrzeuge verschwanden. Die Kühlschränke wurden ausgesteckt und die Medikamente im Freien und auf dem Boden verstreut. Wird die Kühlkette unterbrochen, können die Medikamente nicht mehr verwendet werden. Am 26. April wurde auch das Universitätsspital von El Geneina geplündert und teilweise beschädigt und zerstört. Unsere Teams betreiben dort eine Pädiatrie und ein Ernährungszentrum. Nach dem Angriff musste der Betrieb in El Geneina eingestellt werden.
Die Arbeit der medizinischen und humanitären Helfer:innen inmitten dieser katastrophalen Situation wird auf verschiedenen Ebenen behindert. So werden Versorgungsgüter und Fahrzeuge entwendet und medizinisches Personal belästigt. Auch rückt die Gewalt immer näher an die medizinischen Einrichtungen und Infrastrukturen heran.
Die Angriffe sind keine isolierten Vorfälle. Vielmehr sind sie Teil einer generellen Entwicklung, bei der Kriegsparteien ziviles Leben, Infrastruktur und den Schutz von Gesundheitseinrichtungen missachten. Dieser Trend stellt eine ernsthafte Bedrohung für die medizinische Versorgung dar und er verschärft die bereits schwierigen Lebensbedingungen vor Ort zusätzlich.
Auch administrative und logistische Probleme behindern die medizinischen Aktivitäten von unseren Teams. Es ist äusserst schwierig, Hilfsgüter von einer Region des Sudans in eine andere zu transportieren. Zwar konnten wir in den ersten Wochen des Konflikts Notfallteams in den Sudan entsenden. Doch es ist es schwierig, Genehmigungen für den Besuch von Projektstandorten oder Visa für zusätzliches Personal zu beantragen.
Wie können wir unsere Arbeit fortsetzen, wenn der Schutz unserer Mitarbeitenden nicht gewährleistet ist? Wie sollen Menschen medizinische Einrichtungen betreten, wenn sie sich aufgrund der ständigen Bedrohungen kaum aus dem Haus trauen? Und wie lassen sich Hilfsgüter überhaupt von A nach B transportieren, wenn die Mobilität unserer Teams derart eingeschränkt ist?
Als humanitäre Hilfsorganisation haben wir jahrelange Erfahrung in Konfliktgebieten. Zivilist:innen und medizinische Mitarbeitende laufen inmitten von Konflikten grosse Gefahr. Insbesondere dann, wenn sie nicht evakuiert werden können oder sich bewusst dazu entscheiden, vor Ort zu bleiben.
Konfliktparteien müssen alle notwendigen Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergreifen und sicherstellen, dass Kranke und Verletzte Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erhalten.
Während ich schreibe, drängt sich mir eine schmerzliche Frage auf. Wie viele Menschen fallen in diesem Moment wohl dem Konflikt zum Opfer – Menschen, deren Leben hätte verschont bleiben sollen? Angesichts der anhaltenden Konflikte und der Angriffe auf die Gesundheitsversorgung an verschiedenen Orten ist es zwingend erforderlich, die Sicherheit des medizinischen Personals und der Gesundheitseinrichtungen zu gewährleisten. Nur so können wir eine effektive Gesundheitsversorgung sicherstellen. Dazu müssen Krankenwagen und Menschen, die medizinische Hilfe benötigen, sicher von einem Ort zum andern gelangen können. Humanitäre Helfer:innen, Organisationen und Transportfahrzeuge müssen schnellen und ungehinderten Zugang in die Gebiete erhalten, wo sie so dringend benötigt werden.
Es stehen zu viele Leben auf dem Spiel. Und wir dürfen nicht tatenlos zusehen: Die von den Kämpfen betroffene Zivilbevölkerung muss umgehend Zugang zu einer medizinischen Notversorgung erhalten.»
Stephen Cornish, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Schweiz
© MSF/Ala Kheir