Ostukraine: «Wir fühlen uns hier verloren und haben grosse Angst»

Après deux ans de conflit, le traumatisme psychologique est énorme, les familles et les communautés sont déchirées.

Ukraine7 Min.

Auch mehr als zwei Jahre nach Ausbruch des Ukrainekonflikts sind im Gebiet um die Frontlinie Tausende Menschen völlig auf sich allein gestellt.

Die Auseinandersetzungen forderten seit Mai 2014 mehr als 9'300 Todesopfer und rund 21'500 Verletzte (gemäss der UNO-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine, HRMMU). Auch wenn der Konflikt nicht mehr im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit steht, sterben bei häufig vorkommenden Verstössen gegen die 2015 vereinbarte Waffenruhe weiterhin regelmässig Menschen.
Eine grosse Belastung ist der verschleppte Konflikt vor allem für jene, die auf dem Höhepunkt der Kämpfe nicht fliehen konnten und nahe der sogenannten Kontaktlinie zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den prorussischen Rebellen zurückbleiben mussten, wo Gefechte nach wie vor an der Tagesordnung sind. Besonders ältere Menschen sind betroffen und haben vor Ort oft keine oder wenig Unterstützung. Viele von ihnen leiden an akuten psychischen Krankheiten und chronisch Erkrankte haben nur stark eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung.
Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) ist momentan eine der wenigen internationalen Organisationen, die die Menschen in den konfliktnahen Gebieten mit dringend benötigter medizinischer und psychologischer Hilfe unterstützt. Die MSF-Teams in Bachmut und Mariupol betreiben mobile Kliniken und versorgen verschiedene Einrichtungen mit Medikamenten und Material. Dabei versorgen sie rund 40 verschiedene Orte, um auch die hilfsbedürftigsten Menschen erreichen zu können.
Die medizinische Betreuung führen sie in verlassenen und leerstehenden Schulgebäuden sowie Gemeinde- und Gesundheitseinrichtungen durch. Selbst Häuser und Wohnungen wurden den MSF-Ärzten von Privatleuten für ihre Sprechstunden zur Verfügung gestellt.
Obwohl der Betrieb in manchen Gesundheitseinrichtungen allmählich wieder anläuft, bleibt in vielen Dörfern, die gefährlich nahe am Konfliktgeschehen liegen, das ehemals dort tätige medizinische Personal weiter fern. In manchen Gegenden müssen zahlreiche Kliniken und Spitäler weiterhin ohne Medikamente auskommen, während anderswo die Gesundheitseinrichtungen teilweise oder vollständig zerstört wurden.

Behandlung chronischer Krankheiten

Unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen stellen eines der grössten Probleme bei der medizinischen Versorgung älterer Menschen dar. In den Gebieten nahe der Kontaktlinie  bekämpft MSF die grossen Lücken in der Gesundheitsversorgung. In Städten wie Mariupol, in denen viele Menschen Zuflucht vor dem Konflikt gesucht haben, leiden die Einwohner unter der hohen Arbeitslosigkeit und der ungebremsten Inflation. Chronisch Kranke können sich notwendige Behandlungen oft schlicht nicht leisten. Werden sie nicht behandelt, steigt das Risiko medizinischer Komplikationen jedoch erheblich.
Mehr als fünfzig Prozent der von MSF behandelten Patienten leiden an kardiovaskulären Erkrankungen, was auf die hohe Zahl älterer Patienten zurückzuführen ist. Überdies leiden zehn Prozent der Patienten an Diabetes und befinden sich in einer Behandlung oder benötigen eine solche.
Die Betreuung chronisch kranker Patienten ist eine grosse Herausforderung, vor allem in solchen Gebieten, die aufgrund der Sicherheitslage schwer zu erreichen sind. «Bei Patienten mit chronischen Krankheiten ist es unabdingbar, dass die Therapie ununterbrochen ablaufen kann», sagt Dr. Gabriela Das, die als medizinische Koordinatorin für MSF tätig ist. «Zur Verhinderung von Komplikationen bekommt deshalb jeder Risikopatient, den wir nicht regelmässig persönlich betreuen können, bis zur nächsten Behandlung eine ausreichende ‹Medikamentenreserve›.»
Laut Schätzungen finden sich unter den 1,75 Millionen vom Konflikt vertriebenen Menschen über eine Million Senioren. Da die monatliche Durchschnittsrente nur 42 Euro beträgt und die Medikamente für chronische Krankheiten mit 14 Euro pro Monat bereits ein Drittel dieser Rente ausmachen, können sich viele Senioren eine Behandlung nicht leisten.
Raisa ist achtzig Jahre alt und lebt in Taramchuk, einem kleinen Dorf nahe der Kontaktlinie. Da das Haus der Rentnerin im August 2014 bei einem Angriff zerstört wurde, bewohnt sie nun das Haus eines Nachbarn,  der wegen des Konflikts  aus dem Dorf geflohen war. «Wir fühlen uns verloren und haben grosse Angst», erklärt Raisa. «Ständig hören wir, wie geschossen wird. Das Leben hier ist schrecklich, manchmal denke ich sogar an Selbstmord. In meinem Alter noch mit einer solchen Situation fertig werden zu müssen, lässt mich regelrecht verzweifeln.»

Hartnäckige psychische Narben

Nach zwei Jahren, in denen der Konflikt unzählige Familien und Gemeinden zerstört hat, sind viele Menschen seelisch traumatisiert. Besonders häufig betroffen sind ältere Menschen. Nachdem sie Abschied von Kindern und Enkelkindern nehmen mussten, die der Konflikt in die grösseren Städte getrieben hat, haben viele Senioren mit Einsamkeit und fehlendem emotionalem Rückhalt zu kämpfen. Da sie dem Konflikt unmittelbar ausgesetzt sind, leiden sie häufig unter Ängsten und Depressionen.
Seit Juli 2014 umfasst das Behandlungsangebot von MSF deshalb auch psychologische Unterstützung. 18'000 Einzel- und Gruppensitzungen hat MSF seitdem durchgeführt, wobei ältere Menschen einen bedeutenden Teil der Hilfesuchenden ausmachten.
«Die Senioren, die zu uns kommen, haben oft mit Ängsten und dem Gefühl zu kämpfen, dass der Konflikt sie um den Verstand bringt», sagt Viktoria Brus, MSF-Psychologin in Kurakhove. «Sie werden vergesslich, sind still und sagen kein Wort. Wir betonen in unserer Arbeit ihre wichtige Rolle in der Familie, vermitteln unkomplizierte Bewältigungsstrategien und zeigen einfache Massnahmen auf, mit denen sie ihr Befinden verbessern können – zum Beispiel, indem sie in ihrem Dorf das Gespräch mit anderen Menschen suchen.»
Mehr als die Hälfte der Menschen, die bei MSF therapeutische Hilfe suchen, leidet unter Ängsten. «Die weite Verbreitung von Angstzuständen rührt daher, dass so viele Menschen dem Konfliktgeschehen direkt ausgesetzt sind», sagt Dr. Das. «Auch Hoffnungslosigkeit und die als ungewiss empfundene Zukunft tragen zu dieser Situation bei. Der psychische Stress kann wiederum die Symptome körperlicher Leiden verschlimmern, wie wir zum Beispiel oft bei Patienten mit Bluthochdruck beobachten. Obwohl sie dagegen behandelt werden, leiden die Patienten aufgrund der psychischen Belastung dennoch oft unter Atembeschwerden, Herzrasen und Schlafstörungen. Um also die körperlichen wie auch seelischen Gesundheitsrisiken der Patienten zu minimieren, ist es äusserst wichtig, dass neben der psychologischen Betreuung auch angemessene medizinische Hilfe angeboten wird.»

Kein Zugang zu Gebieten, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen

Bis Oktober 2015 war MSF beidseits der Frontlinie tätig und leistete Unterstützung sowohl in von der Regierung kontrollierten als auch in den ausserhalb ihrer Kontrolle stehenden Gebieten. Im Oktober 2015 wurde MSF jedoch ihre Tätigkeit in den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk (LNR und DNR) untersagt. Derzeit dürfen die MSF-Teams nur in jenen Gebieten Hilfe leisten, die sich unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung befinden. «Als unsere Teams aus Lugansk und Donezk ausreisen mussten, haben wir Tausende hilfsbedürftiger Patienten zurückgelassen», sagt Mark Walsh, MSF-Landeskoordinator in der Ukraine. «Besonders sorgen wir uns um die Patienten, die an Diabetes, chronischem Nierenleiden, Herzerkrankungen und Tuberkulose leiden. Um den Menschen auf beiden Seiten des Konfliktes helfen zu können, planen wir nach wie vor, unsere Tätigkeit in Donezk und Lugansk sobald wie möglich wieder aufzunehmen.»
2015 belieferte MSF 350 medizinische Einrichtungen auf beiden Seiten der Frontlinie mit Medikamenten- und Materialspenden und stellte die medizinische Versorgung von mehr als 9'900 Patienten mit konfliktbedingten Verletzungen sowie von über 61'000 chronisch Erkrankten sicher. Zudem wurden 5'100 Geburten begleitet. Die Teams haben in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium ausserdem 159'900 allgemeinmedizinische Sprechstunden und 12'000 psychologische Beratungen geleistet. MSF betreibt auch Erste-Hilfe- und Wasser-Stationen an den Kontrollpunkten Nowotrojizke, Zaitseve und Mayorsk, um den Menschen, die dort  in langen Schlangen in der Sommerhitze warten müssen, zu helfen.

Beendigung der Tätigkeit in der Region Bachmut bis Ende Juli 2016

Nach zwei Jahren, in denen MSF in Bachmut und Umgebung dringend benötigte medizinische und humanitäre Hilfe leistete, wird MSF ihre Aktivitäten dort Ende Juli 2016 einstellen. Mehrere der MSF-Massnahmen in der Region werden zusammen mit Material und Ausrüstung an andere Nichtregierungsorganisationen übergeben, welche die Hilfsaktivitäten in den kommenden Monaten weiter fortführen werden. Die MSF-Teams betreiben jedoch weiterhin mobile Kliniken in Mariupol und Umgebung.