Mossul: «Ich möchte nur, dass meine Familie wieder vereint ist und dass nichts Weiteres mehr passiert.»

Irak, 30.05.2018

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Die Narben im Gesicht der 18-jährigen Anoud zeigen nur einen Bruchteil dessen, was sie im vergangenen Jahr durchgemacht hat. 2017 wurde das Haus ihrer Familie in Hawidscha im Nordirak von einer Bombe getroffen. Der Schaden war verheerend. Im Bemühen, ihre Verletzungen medizinisch behandeln zu lassen, wurde Anouds Familie getrennt. Zurzeit kümmert sich Anoud um ihre achtjährige Schwester Bushra, die auf der von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) betriebenen chirurgischen Abteilung in Ost-Mossul behandelt wird. Das ist die persönliche Geschichte von Anoud und Bushra.

Anoud, 18: 

Es war letztes Jahr am fünften Tag des Ramadan, als der Angriff passierte. Wir waren in unserem Haus in Hawidscha. Wir hatten schon fünf Tage gefastet. Wir sassen im Garten. Da schlug im Haus unserer Nachbarn eine Rakete ein. Wir rannten zu ihnen und brachten alle in das Haus meines Vaters. Genau in diesem Moment wurde unser Haus bombardiert.  

Ich verlor eine Schwester und einen Bruder bei diesem Angriff. Alle anderen von uns wurden verletzt. Meine Mutter verlor ein Bein. Ich hatte Granatsplitter im linken Auge, in meiner Hand und im Bein. Ein Bein war gebrochen. Meine jüngste Schwester hatte schwere Verletzungen am Auge und an den Händen. 

Bushra hatte Granatsplitter im Knie und ihre Kniescheibe war zertrümmert. Jetzt ist die Kniescheibe weg. Sie hatte auch Granatsplitter im Kopf. Sie sind immer noch drin; die Ärzte sagen, wenn man sie bewegt, hätte es tödliche Folgen. Auch in der Brust, in der Hand und im Auge hat sie Granatsplitter. Ihr Sehvermögen ist beeinträchtigt. Wenn sie nur ihr rechtes Auge benutzt, kann sie nicht geradeaus schauen, sie muss nach links blicken. 

Man brachte uns ins Spital in Hawidscha, aber dort konnte man uns nicht behandeln. Daraufhin wurden wir nach Shirqat gebracht. Meine Mutter und ich blieben hier, aber Bushra und meine andere kleine Schwester konnten sie nicht behandeln. Sie schickten sie nach Tikrit, doch auch dort konnte man sie nicht behandeln. Darauf kamen sie in das Spital in Kirkuk, wo ihnen eine NGO half.  

Bushra und meine andere kleine Schwester wurden für eine sechsmonatige Behandlung nach Sulaymaniyah (Nordosten Iraks) gebracht; da wurden wir getrennt. 

Jetzt ist meine Mutter im Libanon, gemeinsam mit meiner jüngsten Schwester, die dort wegen ihrer Verletzungen behandelt wird. Sie sind nun seit zwei Monaten dort. Gestern Abend habe ich mit ihnen gesprochen und meine Mutter bestätigte, dass meine Schwester ihr Auge verloren hat. Die Ärzte konnten sie erfolgreich an den Händen operieren. Wäre sie im Irak geblieben, hätte man ihre Hände amputiert. In acht Tagen kommen sie zurück. 
  
Ich habe vieles von dem, was passiert ist, vergessen. Es waren wirklich furchtbare Ereignisse und die ersten sechs Monate habe ich fast nur schlafend verbracht. Ich war nicht ich selbst. Es kam mir alles wie ein Traum vor. Ich erwachte nur, wenn ich meine beiden Brüder sah. Mein Vater ist der einzige, der sich an alles erinnert und mir davon erzählen kann.  

Mein Vater und einer meiner Brüder leben nun im Lager Jeda’ah. Mein Vater hatte einen Schlaganfall. Er ist alt und im Lager die meiste Zeit allein. Das Leben ist wirklich schwierig.

Bushra fragt immer wieder nach meiner Mutter, aber ich kann nichts tun. Als Bushra aus Sulaymaniah zurückkam, ging es ihr gut und sie konnte spielen. Aber sie konnte ihr Bein nicht strecken oder sonst etwas damit machen, da hat sich die Wunde entzündet. 

Eine andere NGO überwies uns an die Einrichtung von MSF. Nun sind wir seit acht Tagen hier. Die Dienste sind wirklich gut. Bushra hatte schon zwei Operationen am Knie. 

Mein Bein schmerzt stark beim Gehen. Gestern Morgen haben sie es geröntgt, wie auch die Granatsplitter in meinen Händen, um zu sehen, was sie tun können. 

Ich möchte nur, dass meine Familie wieder vereint ist und dass nichts Weiteres mehr passiert.

Das ist meine Geschichte, und die erzähle ich allen. Auch wenn die Ärzte oder Organisationen zu mir kommen, spreche ich darüber. Das Erzählen hilft mir, meinen Kopf zu leeren und meine Seele zu erleichtern.»

Bushra, 8  

«Im Moment gehe ich nicht zur Schule. Ich war sogar noch nie dort. Ich werde in die Schule gehen, wenn ich wieder gesund bin. Ich will Dinge lernen und neue Freunde kennenlernen. Ich will lesen und schreiben lernen. 

Im Lager spiele ich mit meinen Freunden. Wir spielen und zeichnen. Ich zeichne Sachen wie Spielzeug, Blumen, Fische oder Schmetterlinge. 

Wir gehen in den Kindergarten im Lager. Sie geben uns Notizbücher, in die wir zeichnen und Buchstaben hineinschreiben. 

Früher hatte ich viel Spass mit all meinen Brüdern und Schwestern. Wir machten Hüpfspiele und zeichneten auf eine Tafel.»

Ich habe meine Schwester so lieb, weil sie sich um mich kümmert. Ich wünsche mir, dass meine Familie wieder zusammen ist. Dass ich gesund werde und wir alle wieder zusammen leben.

Die Situation der Einwohner von Mossul

Viele Kriegsverletzte in Mossul – aber auch in anderen Post-Konflikt-Gebieten wie Kirkuk, Anbar und Salaheddin – litten monatelang unter Schmerzen, bis sie Nachsorge erhielten. Häufig wurden sie direkt an oder hinter der Front eilends operiert, um ihr Leben zu retten. Doch nun brauchen sie weitere operative Eingriffe, Schmerzbehandlungen und Physiotherapie, damit sie ihre verletzten Glieder und Muskeln wieder gebrauchen können und in ihren Bewegungen nicht eingeschränkt sind. Viele Menschen brauchen auch dringend psychologische Hilfe. Sie müssen die traumatischen Erlebnisse verarbeiten und brauchen Unterstützung beim Umgang mit dem Verlust von geliebten Menschen. 

In Mossul ist es nun ein Jahr her, seit die Kämpfe offiziell beendet sind. Doch das Leiden ist damit nicht beendet: Die Menschen müssen nun die Stadt und ihr eigenes Leben wieder aufbauen. Grosse Teile von Mossul, besonders im Westen, sind noch nicht bewohnbar. Noch immer hat es in Häusern und Gesundheitseinrichtungen Minen und Sprengfallen. 

Einige Menschen, die keine andere Wahl hatten, sind nach Mossul zurückgekehrt, wo sie nun in ihren beschädigten Häusern ohne Wasser oder Strom leben. Die schlechten Hygienebedingungen erhöhen das Risiko für Krankheiten, und immer wieder kommt es zu Verletzungen, wenn die Menschen unter gefährlichen Bedingungen ihre Häuser instand setzen wollen. 

Doch der Zugang zu medizinischer Versorgung ist nicht einfach, da neun der 13 Spitäler bei den Kämpfen beschädigt wurden. Der Wiederaufbau der Gesundheitseinrichtungen geht nur schleppend voran. Auf 10’000 Personen kommen nur fünf Spitalbetten, was weit unter dem internationalen Mindeststandard liegt.

MSF war 2017 in und um Mossul tätig, um lebensrettende medizinische Hilfe zu leisten. Wir betrieben mehrere Stabilisierungsposten in Ost- und West-Mossul und vier Spitäler, deren Angebot Notfallversorgung, Chirurgie und Mutter-Kind-Versorgung umfasste. Zurzeit leitet MSF eine Geburtsklinik in West-Mossul und eine Einrichtung für Chirurgie und Nachsorge für Kriegsverletzte in Ost-Mossul.  

Als die Menschen allmählich in die Region Hawidscha zurückkehrten, eröffnete MSF eine Klinik in al-Abassi, in der nichtübertragbare Krankheiten (NCD) behandelt werden und psychologische Hilfe angeboten wird. Die Organisation sanierte dort auch das Wasserversorgungssystem und plant dies nun auch für al-Shajera, wo dadurch 35’000 Menschen Zugang zu Trinkwasser erhalten. Dies soll auch die Verbreitung von Krankheiten verhindern. MSF eröffnete auch eine Klinik für primäre Versorgung in Hawidscha-Stadt, die bald die Behandlung von NCD, psychologische Betreuung und Leistungen im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit anbietet. Im Hinblick auf die Rückkehr von weiteren Menschen wird MSF im Spital in Hawidscha auch eine Notaufnahme betreiben.