«Menschen brechen vor meinen Augen zusammen. Sie sind körperlich am Ende und haben offensichtlich seit Langem nicht genug zu essen.»

Die Wasserversorgung und hygienischen Bedingungen im Lager sind katastrophal. Es gibt kein Trinkwasser und tausende Menschen müssen ihre Notdurft im Freien erledigen, was das Risiko für Epidemien erhöht. Vertriebenenlager von Gomgoi, Twic County, Südsudan, 7. April 2022

Südsudan5 Min.

Sami Al-Subaihi leitet das Nothilfeprojekt von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) im Bezirk Twic im südsudanesischen Bundesstaat Warrap. Er ist besorgt um die Lage von über 20000 Menschen, die vor vier Monaten vor den gewaltsamen Zusammenstössen in und um Agok (Sonderverwaltungszone Abyei) fliehen mussten und heute in sechs provisorischen Camps leben. Er berichtet von Lebensmittel- und Trinkwassermangel, notdürftigen Unterkünften sowie verheerenden sanitären Zuständen und verweist auf die bevorstehende Regenzeit, welche die Aussichten für die kommenden Monate noch weiter trüben dürfte.

Ein Vertreter der Gemeinde im Geflüchtetenlager von Nyin Deng Ayuel erzählt mir, allein in den letzten zwei Tagen seien zwei Kinder und ein Erwachsener gestorben. Die Mutter von einem der Kinder finde ich am kleinen, frisch ausgehobenen Grab ihres fünfjährigen Sohnes. Ihre drei weiteren Kinder, alle sehr mager und schwach, sitzen am Eingang ihrer behelfsmässig aufgestellten Hütte. Aus dem Gespräch mit der Mutter kann ich mir kein genaues Bild von der Todesursache ihres Sohnes machen, doch nach dem Aussehen seiner Geschwister zu schliessen hat der Lebensmittelmangel nicht unbeträchtlich dazu beigetragen.

Menschen sind gezwungen, im Busch Blätter zum Essen zu sammeln

Bei meinem Besuch der notdürftig zusammengestellten Camps im Bezirk Twic hat die Besorgnis der Menschen, die ich hier antreffe, einen wichtigen gemeinsamen Nenner: Nahrungsmangel. In einem Camp brechen Menschen vor meinen Augen zusammen. Sie sind körperlich am Ende und haben offensichtlich seit Langem nicht genug zu essen. In keinem der Geflüchtetenlager sehe ich Menschen beim Kochen oder gelagerte Lebensmittel. Man erzählt mir, dass es im allmählich austrocknenden Fluss fast keine Fische mehr gibt; man sei gezwungen, im Busch Blätter zum Essen zu sammeln.

Seit Februar hat sich die Nahrungsmittelknappheit in den Camps verschärft. Damals kamen tausende Menschen auf ihrer Flucht vor den tödlichen Kämpfen aus dem 20 km entfernten Agok hierher.

500 Tonnen gelieferte Nahrungsmittel

Diese Notlage hat uns gezwungen, für uns als medizinische Hilfsorganisation ungewöhnliche Massnahmen zu ergreifen. Um eine grössere Katastrophe abzuwenden, brachten wir in den letzten Monaten nahezu 500 Tonnen Nahrungsmittel hierher. In den kommenden Wochen und Monaten haben wir vor, weitere Lebensmitteltransporte zu organisieren.

Zusätzlich betreiben wir an sechs Standorten mobile Kliniken, in denen unsere medizinischen Teams regelmässig Kinder in äusserst kritischem Zustand behandeln, die an Malaria und Durchfallerkrankungen leiden sowie letztens immer mehr auch von Mangelernährung betroffen sind. Die gesundheitlichen Probleme, mit denen wir es hier zu tun haben, sind direkt den katastrophalen Lebensbedingungen in den Camps geschuldet. Seit Monaten (über-)leben diese Menschen im Freien, schützen sich mit Plastikplanen behelfsmässig gegen die pralle Sonne und gegen die ständige Bedrohung von Schlangen und Skorpionen. Ich bezweifle, dass ihre notdürftigen Behausungen den saisonalen Regenfällen lange standhalten können, wenn diese dieses Jahr stark ausfallen.

Unser Team hat auch Decken, Moskitonetze, Kanister und Seife an etwa 10 000 Familien verteilt. Wir haben ausserdem an die 310 Latrinen gebaut, acht Wasserstellen installiert und sind dabei, Brunnen zu bohren, um mehr sauberes Wasser zur Verfügung zu stellen. Doch ehrlich gesagt ist das nicht genug. Mit dem Regen kommen Überschwemmungen, dies verschlechtert die Lebensbedingungen und den Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen. In der Folge steigt das Risiko für einen Ausbruch von Krankheiten wie Malaria, Masern und Cholera.

Ein MSF-Flugzeug wird in Turalei entladen. Dort ist ein Notfallteam im Einsatz, das sich um Nahrung, Wasser, Wasserentsorgung und gesundheitliche Bedürfnisse von rund 33 000 Vertriebenen aus Agok kümmert. Turalei, Twic County, Südsudan, 11. April 2022

Ein MSF-Flugzeug wird in Turalei entladen. Dort ist ein Notfallteam im Einsatz, das sich um Nahrung, Wasser, Wasserentsorgung und gesundheitliche Bedürfnisse von rund 33 000 Vertriebenen aus Agok kümmert. Turalei, Twic County, Südsudan, 11. April 2022

© Scott Hamilton/MSF

Schockierende Tatenlosigkeit von anderen Organisationen und Geldgeber:innen

Obwohl wir seit Beginn dieser Krise bereits mehrmals Alarm geschlagen haben, herrscht von Seiten der im Südsudan aktiven internationalen Organisationen und der staatlichen Geldgeber:innen eine für mein Empfinden schockierende Tatenlosigkeit. Auf diese Notlage wurde bisher nur langsam und unzureichend reagiert. Und jetzt sind wichtige Organisationen gezwungen, ihre Aktivitäten aufgrund von fehlender Finanzierung abzubauen, anstatt die Hilfe aufzustocken. Gleichzeitig bekommen die geschwächten Bevölkerungsgruppen im Südsudan, die von einer Krise nach der anderen getroffen werden, den explosionsartigen Anstieg der Lebensmittelpreise weltweit bereits jetzt akut zu spüren.

Kniend neben der um ihren Sohn trauernden Mutter im Geflüchtetenlager von Nyin Deng Ayuel, ringe ich um die richtigen Worte. All die üblichen Beileidsbekundungen, die mir in den Sinn kommen, scheinen mir leer und verlogen. Angesichts der derzeitigen Lage in den Camps weiss ich, dass unsere Aussichten für die kommenden Monate trüb sind, und mache mir Sorgen um ihre verbleibenden drei Kinder. Unsererseits fahren wir die Aktivitäten hoch – mit mehr Lebensmittel, sauberem Wasser und Latrinen. Wir bereiten die Gesundheitszentren vor Ort auch auf einen Zustrom von mangelernährten Kindern vor und werden in den kommenden Wochen gemeinsam mit dem südsudanesischen Gesundheitsministerium eine Impfkampagne zur Masernprophylaxe durchführen. Ich hoffe, dass wir das Schlimmste noch verhindern können und andere Mütter vor Verlusten dieser Art verschont bleiben.
 

Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit 2006 in der Sonderverwaltungszone Abyei. Mit ihrem Spital, das 2008 in Agok eingerichtet wurde, bot die Organisation rund 140 000 Menschen ein breites Spektrum an Gesundheitsdienstleistungen an. Nach den gewaltsamen Zusammenstössen vom 10. Februar 2022 musste der Spitalbetrieb unterbrochen werden, um den Vertriebenen im südlich von Agok im Bundesstaat Warrap gelegenen Bezirk Twic sowie im nördlichen Abyei (Sonderverwaltungszone Abyei) medizinische und humanitäre Hilfe zu leisten. Von Februar bis Mai 2022 führten unsere medizinischen Teams über 34 000 Konsultationen zugunsten der in den Bezirk Twic geflüchteten Menschen und der einheimischen Bevölkerung durch.