Massendeportationen und eine verfehlte Asylpolitik: Zehntausende Migrant*innen sitzen unter gefährlichen Bedingungen in mexikanischen Grenzstädten fest

Eine Familie rund um ihr Zelt in Plaza de la República in Reynosa, Mexiko.

Mexiko6 Min.

Die restriktive Einwanderungspolitik der USA, ständige Abschiebungen und das Versagen des Asylsystems in Mexiko haben schwerwiegende Folgen für Migrant*innen aus Zentral- und Südamerika. Zehntausende leiden unter den überfüllten Unterkünften und dem fehlenden Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung.

Nach Angaben der Behörden leben in Tapachula, im Süden Mexikos, etwa 40 000 Migrant*innen zusammengepfercht, ohne Zugang zu Unterkünften, grundlegender Versorgung oder Beschäftigungsmöglichkeiten. Mehr als 2 000 Menschen leben in einer ähnlichen Situation in der nördlichen Stadt Reynosa, etwa 200 Meter von der internationalen Brücke entfernt, die diese mexikanische Stadt mit Hidalgo, Texas, verbindet. Die Migrant*innen dort - die meisten von ihnen aus El Salvador, Honduras und Guatemala - sind grosser Hitze und einem ernsthaften Sicherheitsrisiko ausgesetzt. Ausserdem haben sie keinen angemessenen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Ärzte ohne Grenzen/ Médecins Sans Frontières (MSF) sorgt sich vor allem um die Situation der am meisten gefährdeten Menschen innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe: alleinstehende Frauen, Schwangere, ältere Erwachsene, Kinder, indigene und nicht spanisch sprechende Bevölkerungsgruppen sowie LGBTQ-Personen.

Diese Menschen haben kaum Möglichkeiten, eine Bleibe zu finden. Entweder sie leben in einer überfüllten Unterkunft oder auf der Strasse – unter prekären hygienischen Bedingungen und auf die Gefahr hin, sich mit Covid-19 zu infizieren. Wir sind besorgt: Die Menschen leiden an Angstzuständen, Depressionen und Hoffnungslosigkeit, und von den Behörden kommt keine Reaktion.

Christoph Jankhöfer, Koordinator des Projekts für Migrant*innen von Ärzte ohne Grenzen in Mexiko

Ärzte ohne Grenzen bietet medizinische und psychologische Grundversorgung sowie Unterstützung bei der Bereitstellung von sauberem Wasser für die Menschen in Tapachula, Chiapas, und auf der Plaza de la Republica in Reynosa. Die häufigsten behandelten Erkrankungen sind Atemwegs- und Hautkrankheiten, die vor allem auf die überfüllten Unterkünfte zurückzuführen sind. Da die Menschen auf ihren Routen lange Fussmärsche zurücklegen müssen, leider ausserdem viele an Muskelschmerzen und Fussverletzungen.

Die meisten der von Ärzte ohne Grenzen betreuten Personen haben ihren Herkunftsort aufgrund von Gewalt (teilweise auch sexualisierter Gewalt) verlassen, und viele erleben auch Gewalt auf ihrem Weg Richtung Norden. Dazu kommen prekäre Lebensbedingungen, mangelnde Perspektiven und die Trennung von der Familie. Dies beeinflusst ihre psychische Gesundheit und viele entwickeln emotionalen Störungen wie ständige Unruhe, Stress und Angstzustände. 

Die meisten Migrant*innen in Reynosa, wurden unter Vorwand von «Titel 42», aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen. Diese Regelung, die während der Trump-Administration eingeführt und von der derzeitigen Biden-Administration beibehalten wurde, ermächtigt die Behörden, ein angebliches Risiko für die öffentliche Gesundheit durch Covid-19 zu nutzen, um Migrant*innen den erforderlichen Schutz zu verweigern. Sie werden dann, mit dem Einverständnis der Regierung Mexikos, in verschiedene mexikanische Grenzstädte abgeschoben und müssen dort ihren Asylentscheid abwarten. Diese Politik hat Migrant*innen in unmittelbare Gefahr gebracht und zu besorgniserregenden Gewaltausbrüchen geführt. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben das Leid dieser Menschen aus erster Hand erfahren und fordern die mexikanischen und US-amerikanischen Behörden auf, auf die gravierende humanitäre Situation zu reagieren. Es müssen Massnahmen ergriffen werden, um die Lage von Migrant*innen im ganzen Land, aber insbesondere in den Grenzregionen, zu verbessern. Die US-amerikanische und die mexikanische Regierung sollten zusammenarbeiten, um den Zugang zu Schutz in der Region zu fördern, anstatt sich auf Abschiebungen zu konzentrieren.

Eine MSF-Mitarbeiterin betreut eine Patientin in Plaza de la República, Reynosa, Mexiko.

Eine MSF-Mitarbeiterin betreut eine Patientin in Plaza de la República, Reynosa, Mexiko.

© Esteban Montaño

In diesem Artikel lassen wir Martin*, ein junger Salvatorianer der in Reynosa lebt, zu Wort kommen. Martin wurde mehrmals aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen. Bei seinem letzten Versuch die Grenze zu überqueren, wurde er nach seiner Abschiebung entführt: 

«Es war nie meine Idee, mein Land zu verlassen», sagt Martin. «Ich lebte friedlich, denn ich hatte mein Geschäft, ich verkaufte Waren in meiner Nachbarschaft und konnte so ohne Probleme meinen Lebensunterhalt bestreiten. Aber alles änderte sich, als sie mich vergewaltigten.» 

Ich bin schwul. Und in meinem Land habe ich deswegen Diskriminierung und Gewalt erlebt. Deswegen hatte ich keine andere Wahl mehr, als mit all meinen Ersparnissen an einen liberaleren Ort zu fliehen, wo man nicht beiseitegeschoben und schlecht behandelt wird.

Martin*, geflüchtet aus El Salvador, momentan in Reynosa, Mexiko

«Ich kam in Kontakt mit einer Person, die mir sagte, dass sie mir bei der illegalen Einreise in die Vereinigten Staaten helfen würde. Die Abmachung war, dass sie mir dreimal bei der Überfahrt helfen würden. Wenn es nicht klappe, sei ich auf mich allein gestellt. Bei den drei Versuchen, die Grenze zu überqueren, wurde ich nach Reynosa zurückgeschickt. Beim letzten Mal wurde ich entführt, als ich die Brücke verlassen wollte. Jemand sagte mir, er könne mir helfen, zwang mich dann aber, in ein Auto zu steigen und brachte mich zu einem Haus, wo ich mehrere Tage lang eingesperrt wurde.»


«Als sie uns von dort wegbrachten, nutzte ich einen Moment der Unachtsamkeit der Entführer und entkam mit einem anderen Jungen, der ebenfalls nach Reynosa zurückgekehrt war. Wir schafften es, eine Autobahn zu erreichen und stiegen in den ersten Bus, der uns nach Monterrey brachte. Mit einem 500-Peso-Schein, den der Junge versteckt hatte, kauften wir etwas zu essen und machten uns ein wenig frisch. Dann erfuhr ich auf Facebook, dass ich, anstatt erneut zu versuchen, die Grenze illegal zu überqueren, in den Vereinigten Staaten um Asyl bitten könnte, um legal dorthin zu gelangen. Also ging ich zurück nach Reynosa und bin nun schon seit sechs Tagen hier.»

Mexiko ist für mich keine Option. Neben der Entführung habe ich hier in Reynosa auch verschiedene Missbrauchsversuche erlebt. Jetzt gehe ich nirgendwo mehr hin, denn der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühle, ist die Plaza [behelfsmässiges Camp auf der Plaza de La Republica in Reynosa].

Martin*, geflüchtet aus El Salvador, momentan in Reynosa, Mexiko

*Namen geändert