Mangelernährung in der Sahelzone: Wie geht es weiter, wenn eine Million Kinder behandelt wurden?

La zone sahélienne est certainement la région la plus meurtrière au monde pour les jeunes enfants.

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Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef werden in diesem Jahr in den Ländern der Sahelzone eine Million schwer mangelernährte Kinder behandelt werden. Ein wachsendes Bewusstsein für das Ausmass der Krise hat zu einer verbesserten Versorgung geführt. Dennoch erfordern diese wiederkehrenden Ernährungskrisen einen neuen Ansatz, um Kinder davor zu bewahren, jedes Jahr in die gleiche Situation zu kommen. Die Kinderärztin Susan Shepherd und der Ernährungsspezialist Stéphane Doyon von MSF geben im Interview Auskunft über mögliche Strategien.

Eine Million Kinder werden in diesem Jahr in Programmen von Regierungs- und Hilfsorganisationen im Sahel behandelt. Was sagen uns diese Zahlen?
Susan Shepherd: Darin liegt sowohl ein Scheitern als auch ein Erfolg. Das Scheitern drückt sich darin aus, dass jedes Jahr aufs Neue grossflächige Ernährungskrisen zu verzeichnen sind, die sich in einigen Ländern zudem verschlimmern. Eine Million mangelernährte Kinder – das ist eine enorme Zahl. Aber das Wichtigste, was wir an Erkenntnissen aus diesem Jahr mitnehmen sollten, ist, wie Regierungen, Organisationen der Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen diese Krise managen. Daher ist es ein erstmaliger grosser Erfolg, dass eine Million mangelernährte Kinder behandelt werden und die überwiegende Mehrheit von ihnen gesund werden wird.
Stéphane Doyon: Vor der Ernährungskrise im Niger im Jahr 2005 erhielten mangelernährte Kinder keine Behandlung, und Mangelernährung blieb bei ihnen praktisch unerkannt. Dass jetzt eine Million mangelernährte Kinder behandelt werden, bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Lage schlimmer wird. Es zeigt vielmehr, dass bei der Behandlung grosse Fortschritte erzielt wurden. Der verbesserte Umgang ist grösstenteils auf den politischen Willen der Regierungen zurückzuführen, die etwas dagegen unternehmen wollen. Zum ersten Mal seit 2005 haben die am stärksten betroffenen Länder ehrgeizige Pläne für die Behandlung mangelernährter Kinder implementiert und präventive Massnahmen umgesetzt. Die Geber haben sich bereit erklärt, Programme für therapeutische Nahrungsergänzungsmittel – die auf die Bedürfnisse von Kleinkindern abgestimmt sind – zu finanzieren, auch wenn noch nicht alle Mittel freigegeben wurden.

Ist die Lage in diesem Jahr schlimmer als sonst?

Susan Shepherd: Für kleine Kinder in der Sahelzone ist jedes Jahr schwierig. Die Region ist ohne Zweifel die tödlichste in der Welt für sie. Mangelernährung ist besonders verheerend, wenn die Kinder zudem an einer der typischen Kinderkrankheiten oder an Malaria (die mit der Regenzeit auftritt) leiden. Hinzu kommen die fragilen Gesundheitssysteme und ein unzureichender Impfschutz, so dass alle Voraussetzungen für hohe Kindersterblichkeitsraten gegeben sind. Dennoch gibt es auch gute Nachrichten: Wir sind uns mittlerweile des Problems bewusst und kennen das Ausmass der Mangelernährung in dieser Region. Es gibt heute effektive Methoden zur Vorbeugung, dank gebrauchsfertigen Nahrungsergänzungsmitteln auf Milchbasis, die an die speziellen Bedürfnisse von Kindern angepasst sind. Ein Kind, das geimpft ist, vor Malaria geschützt ist und die richtige Nahrung erhält, wird nicht an Mangelernährung leiden.
Stéphane Doyon: Eine Million Kinder zu behandeln, ist ehrgeizig, denn jedes dieser Länder hat mit eigenen Hürden zu kämpfen. Das Vorhaben bleibt aber realistisch – der Wille und die Mittel sind da. Im Tschad beispielsweise beginnen wir fast bei null: Die Antwort auf die diesjährige Ernährungskrise muss auf einem sehr schwachen Gesundheitssystem aufgebaut werden. Zudem sollen in diesem Jahr doppelt so viele Kinder (127’000) behandelt werden wie im Jahr 2011 (65’000). Zugleich wird die bevorstehende Regenzeit den Hilfseinsatz erschweren. In Mali stellen die politische Instabilität und die Entführungsgefahr zusätzliche Herausforderungen dar.
Im Niger ist die Situation völlig anders. Das Land hat in den vergangenen Jahren das Problem der Mangelernährung aktiv bekämpft, indem es die Behandlung verbessert und Präventionskampagnen durchgeführt hat. Dennoch brauchen in diesem Jahr vermutlich fast 400’000 mangelernährte Kinder eine Behandlung. Das sind mehr Kinder als in den beiden vergangenen Jahren. Das liegt daran, dass das Problem der Mangelernährungs im Niger, genauso wie in den anderen Ländern der Sahelzone, endemisch ist. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir unsere gesamte Herangehensweise an Mangelernährung überdenken.

Wie kann man den Kreislauf durchbrechen?

Stéphane Doyon: Heute wird diese Ernährungskrise im Nothilfe-Modus gemanagt. Wenn wir von einem Notfall sprechen, beziehen wir uns meist auf humanitäre Einsätze. Da sind wir dann aber bei einer der grossen Herausforderungen: Für Regierungen sind Modelle der humanitären Hilfe schwer zu adaptieren und langfristig aufrechtzuerhalten. Deshalb müssen wir aus diesem Notfall-Modus aussteigen und eine langfristige Strategie entwickeln. Zudem müssen wir genau verstehen, was Mangelernährung ist: Nämlich ein medizinisches Problem, das mit einem Nahrungsmangel zusammenhängt, und zwar mit Nahrung, die den besonderen Bedürfnissen von Kindern gerecht wird. Die Länder, die das Problem der Mangelernährung bei Kindern angepackt haben, schliessen die Ernährungsthematik in das Gesundheitssystem ein. Langfristige Lösungen brauchen deshalb medizinische Massnahmen. Entwicklung, Landwirtschaft und Behandlung von Mangelernährung ergänzen sich gegenseitig.
Susan Shepherd: Mangelernährung sollte jederzeit und an jedem Ort, an dem sie auftritt, wie jede andere frühkindliche Erkrankung behandelt werden. Die Nahrung für ein kleines Kind ist ebenso wichtig wie die Immunisierung oder das Schlafen unter einem Moskitonetz. Eine frühzeitige Behandlung und Vorbeugung sollte ebenso wie Impfungen gegen Kinderkrankheiten in das Gesundheitssystem eines Landes eingeführt werden. Doch um diesen Punkt zu erreichen, müssen wir die Prävention und Behandlung für die Mütter so einfach wie möglich machen. Dank ihnen können Kinder zu Hause anstatt im Spital behandelt werden. Die Mütter sind auch diejenigen, die die präventive Verteilung von essfertigen Nahrungsergänzungsmitteln zu einem so grossen Erfolg gemacht haben. In den heutigen Ernährungsprogrammen von MSF in der gesamten Region probieren wir unterschiedliche Strategien aus, um den praktischsten und wirksamsten Ansatz zu finden. Wir denken zum Beispiel darüber nach, die Mütter den mittleren Oberarmumfang (MUAC) ihrer Kinder selbst messen zu lassen, anhand dessen der Ernährungszustand des Kindes beurteilt werden kann. Die Lösungen sind da draussen, wir müssen sie nur finden.

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