„Ich habe Mühe zu begreifen, dass ein solcher Horror möglich ist“

Ana Maria, novembre 2013

4 Min.

Ana Maria ist Psychologin und Expertin für seelische Gesundheit bei Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF). Sie hat langjährige Erfahrung im Umgang mit Gewaltopfern. Angesichts der Gräueltaten, die momentan in den Gold- und Diamantminen der Region Ituri, im Osten der Demokratischen Republik Kongo, verübt werden, ist sie erschüttert und schockiert.

„Seit April geschehen gewalttätige Übergriffe in der Region um Nia Nia, in der Provinz Orientale im Osten der DR Kongo, die mit den Gold- und Diamantenminen in der Region zusammenhängen. Schon seit Jahrzehnten versuchen verschiedene Gruppen bewaffneter Banditen, Profit aus der illegalen Wirtschaft der Minen im Okapi-Wald zu schlagen. Doch derzeit erleben wir einen absolut ungewöhnlichen Exzess der Gewalt.

Hölle auf Erden

Ich war sehr erschüttert von dem, was mir die Menschen erzählten. Sie beschrieben das, was sie erlebt hatten, als die Hölle auf Erden. Ich dachte, ich hätte schon so ziemlich alles gehört, was Menschen erleiden können. Aber ich hatte Mühe zu begreifen, dass ein solcher Horror wirklich möglich ist. Es ist, als würde das Schlimmste, zu dem der Mensch fähig ist, eingesetzt, um zu zerstören, zu erniedrigen und zu demütigen.
Einige Opfer wurden als Sexsklavinnen gehalten – manchmal über Monate – und von mehreren Männern, mehrmals täglich, oft vor den Augen ihrer Eltern, Ehemänner oder Verwandten sexuell missbraucht. Es sind nicht ausschliesslich Frauen betroffen, ich habe auch Kinder und Männer angetroffen, die Opfer von Übergriffen waren.

Missbrauch beeinträchtigt jeden

Die Gewalt, der die Bevölkerung ausgesetzt ist, beschränkt sich nicht auf den sexuellen Bereich. Jeder, der in den Minen arbeitet, hat irgendeine Art von Übergriffen erlitten. Es gibt kaum jemanden, der nicht Gewalt direkt gegen sich oder gegen nahe Angehörige erlebt hat.
Aus Furcht vor drohenden Angriffen oder um nach erlittenen Übergriffen Hilfe zu finden, sind die Bergarbeiter aus ihren Lagern, die sie mitten im Wald nahe den Minen errichtet haben, in die Stadt geflohen. Nia Nias Wirtschaft beruht fast ausschliesslich auf dem Handel mit Gold und Diamanten. Alles andere wird importiert, selbst Wasser und Nahrungsmittel. Trotz des Handels ist der Ort sehr arm, es gibt kaum Jobs oder andere Einnahmequellen. Mit der Flucht aus den Lagern und damit von ihren Arbeitsplätzen haben die Menschen ihre gesamte Lebensgrundlage verloren.

Unterstützung innerhalb der Gemeinschaft

Die Vertriebenen sind in der Stadt kaum erkennbar, obwohl sie momentan einen Viertel der Bewohner ausmachen. Sie mussten keine Notunterkünfte errichten, sondern wurden von Verwandten, Bekannten oder sogar von Fremden aufgenommen, die ihnen ihre Tür öffneten. Die Zahl der Vertriebenen ändert sich kontinuierlich. Jede Woche fliehen Menschen erneut vor der Gewalt und erreichen Nia Nia, während einige den Ort schon wieder verlassen mussten um in die Minen zurückzukehren, da sie nur dort ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Die Opfer werden in Nia Nia nicht stigmatisiert, ganz im Gegenteil: Sie werden aufgenommen, unterstützt und man hört ihnen zu. Ich war sehr beeindruckt von der Belastbarkeit der Menschen und von der grossen Unterstützung innerhalb der Gemeinschaft.

Psychologische Betreuung

Gleich bei der Ankunft in Nia Nia begann das MSF-Team, kostenlose medizinische Grundversorgung zu leisten. Angesichts des grossen Bedarfs bot das Team sogleich auch psychologische Betreuung an. Seitdem haben zahlreiche Menschen unser Zentrum aufgesucht; in der Regel werden sie dabei von anderen Gewaltopfern oder von Nachbarn begleitet.
Opfer von Gewalt, insbesondere von sexuellen Übergriffen, haben nun die Möglichkeit, psychologische Beratung und spezialisierte Hilfe zu bekommen. Die Umstände, wie die Vergewaltigungen stattfanden, erschweren allerdings die Versorgung. Die sogenannte Postexpositionsprophylaxe, die vor HIV, anderen sexuell übertragbaren Krankheiten und Schwangerschaften schützt, ist nur dann vollständig wirksam, wenn sie innerhalb von 72 Stunden nach dem Übergriff eingenommen wird. Den Frauen, die über Monate als Sexsklavinnen festgehalten werden, bleibt dieser grundlegende Schutz deshalb vorenthalten.

Langanhaltende Traumata

Auch Monate nach einem Missbrauch leiden die Opfer an physischen und psychologischen Traumata. Viele leiden an Schmerzen, infizierten Wunden, Stresssymptomen, Depressionen und Alpträumen.
Keiner weiss, was der nächste Tag bringen wird, und diese konstante Ungewissheit ist ein weiterer Stressfaktor für die Gewaltopfer.

Erschüttert und schockiert

Das ganze Team ist erschüttert und schockiert von den entsetzlichen Gräueltaten, die den Menschen zugefügt wurden. Ich glaube, dass es unsere Pflicht ist, über das, was gegenwärtig in der Umgebung von Nia Nia passiert, zu berichten. Wir müssen das Schweigen brechen, um den Menschen zu helfen.
Gewalt und sexuelle Übergriffe sind leider nichts Neues in der DR Kongo, aber für die Opfer werden diese Gräueltaten niemals normal sein. Niemand sollte derartige Gewalt erdulden müssen.“

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