Geflüchtete syrische Ärzte berichten - Dr. Muhammed Selim

Dr Mohammed Selim, 41ans, Camp de Kawargosk

6 Min.

Aus Anlass des Weltflüchtlingstags vom 20. Juni berichten wir über drei syrische Ärzte, die selbst aus Syrien geflüchtet sind und jetzt für MSF im Irak arbeiten.

Diese Beiträge zeigen, was diese Ärzte durchgemacht haben und wie wertvoll ihre Arbeit auch jetzt ist.

«Am Tag nach meinem Weggang wurde das Spital bombardiert.»

Muhammed Selim ist ein 41-jähriger Chirurg. Im Flüchtlingslager Kawargosk im Norden Iraks nimmt er sich eine kurze Auszeit von seinem gedrängten Tagesprogramm, um sich zurückzubesinnen, wie er hierher gekommen ist. Er hatte mit eigenen Augen miterlebt, wie in Syrien medizinische Einrichtungen und Personal unter Beschuss kamen. Trotzdem blieb er, um Verletzte zu behandeln, bis es auch ihm zu gefährlich wurde. So war er gezwungen, dieselbe Reise auf sich zu nehmen, wie die Patienten, die er jetzt behandelt. Flüchtlinge – hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern – warten vor dem Sprechstundenzimmer darauf, bis sie an der Reihe sind und mit einem Arzt sprechen können, der ihre Lage wirklich versteht.
Muhammed Selim war seit 2006 im Sfireh-Distrikt, im Gouvernement Aleppo, tätig. Tagsüber arbeitete er jeweils im Regierungsspital und abends in seiner privaten Klinik.
«Vor 2011 führte ich ein glückliches Leben, die Arbeit lief gut. Ich arbeitete hart, und in meiner Freizeit besuchte ich Freunde in ganz Aleppo.» Doch als der Konflikt im ländlichen Aleppo ausbrach, befand sich Muhammed Selim mit seiner Klinik plötzlich inmitten von Gefechten. «Meine Klinik befand sich in der Nähe von drei strategisch wichtigen Orten, um die zahlreiche Gruppen kämpften. Ich sass acht Monate lang fest, konnte meine Klinik nicht verlassen und weder nach Aleppo noch sonst wohin gelangen. Es wimmelte nur so von Scharfschützen.
Nachdem über Sfireh Fassbomben abgeworfen worden waren, waren die Strassen voller Blut und abgetrennter Körperteile. Ich arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Lieferwagen beladen mit Männern, Frauen und Kinder wurden in meine Klinik gebracht – einige Verletzte hatten Hände, Beine oder ihre Augen verloren. Unsere chirurgischen Kapazitäten waren stark eingeschränkt, wir hatten kein Narkosemittel und waren nur drei Ärzte – ich und zwei Kinderärzte –, aber die Nachbarn unterstützten uns tatkräftig.»

Als wir flüchteten, fielen Bomben

Die anhaltenden Kämpfe trieben die Bewohner von Sfireh scharenweise in die Flucht. Muhammed Selim selbst rettete die Flucht das Leben. «Als wir flüchteten, fielen Bomben. An diesem Tag wurde meine Klinik getroffen und dabei zerstört.
Ich liess mich 12 Kilometer ausserhalb der Stadt nieder und richtete dort eine kleine Klinik ein. Die Versorgung mit Arzneimitteln und den benötigten Gerätschaften war zwar gut, doch ich war der einzige Arzt. Es gab kein Pflegepersonal, dafür halfen die jungen Leute in der Nachbarschaft mit. Wir arbeiteten hart, aber es wurde gekämpft und Leute wurden entführt und auch Fassbomben wurden weiterhin abgeworfen. Wir kamen von zwei Seiten unter Beschuss.
Ich nahm mir fest vor, weiterzuarbeiten und bis zum Ende zu bleiben. Ich hatte keine Angst vor den Flugzeugen, aber ich war der einzige Kurde in dieser Gegend, und Kurden wurden gezielt angegriffen.»

Zweimal nur knapp mit dem Leben davongekommen

Muhammed entschloss sich im Januar 2014 zur Flucht, als die Gefahr, entführt zu werden, zu gross geworden war. Und einmal mehr tat er dies im letzten Augenblick. «Am Tag nach meinem Weggang wurden Fassbomben auf die medizinische Einrichtung abgeworfen. Der ganze Platz wurde zerstört. Die dort aufbewahrten Medikamente hätten genügt, um ein vollständiges Spital zu versorgen.»
Er erinnert sich genau an die lange und gefährliche Fahrt durch Ar-Raqqah und Al-Hasakah – an die zahlreichen Kontrollstellen, an denen er seine kurdische Identität verbergen musste, bis er endlich die Stadt Qamishli erreichte. Von hier versuchte er dreimal, die Grenze zum Irak zu überqueren, doch sie blieb geschlossen. Er musste von Qamishli aus einen elfstündigen Fussmarsch über Berge und Täler zu einem anderen Grenzabschnitt auf sich nehmen, wo es ihm schliesslich gelang, Syrien zu verlassen.
Nachdem er im Flüchtlingslager Darashakran Aufnahme gefunden hatte, setzte Muhammed alles daran, weiterhin als Arzt tätig zu sein. Zwei Wochen lang arbeitete er zunächst als Maler in dem Lager. Doch als er eines Tages deprimiert durch das Camp ging, änderte sich für ihn alles. «Ich hatte die Hoffnung verloren, und ich war in Gedanken bei meiner Malerarbeit, als ich zufällig Mitarbeitern von MSF über den Weg lief. Sie sagten mir, dass es im Lager Kawargosk eine offene Stelle gebe und dass ich mich bewerben könne. Ich hatte schon von MSF gehört, und ich hatte früher davon geträumt, mit dieser Organisation zu arbeiten.»

Manchmal ist die einzige Behandlung, die sie brauchen, das Gespräch

Nachdem er einen schriftlichen Test und ein Bewerbungsgespräch absolviert hatte, begann Muhammed, im Lager Kawargosk als Arzt für Allgemeinmedizin für MSF zu arbeiten. «Zu arbeiten ist gut», sagt er. «Ich bin glücklich, dass ich auf meinem Gebiet tätig sein und mich mit ganzer Kraft einsetzen kann. Die Leute hier sind dankbar für unsere medizinischen Dienste und vor allem dafür, dass ich ihre Sprache und ihren Dialekt spreche. Ich kenne ihr Leiden und ihre Denkweise. Manchmal ist die einzige Behandlung, die sie brauchen, ein Gespräch.»
Muhammed lebt noch immer im Lager Darashakran und fährt jeden Tag in das 10 Kilometer entfernte Lager Kawargosk. Doch obwohl er zweimal nur knapp mit dem Leben davongekommen ist und unermüdlich für seine geflüchteten syrischen Landsleute medizinische Hilfe leistet, quält ihn sein Gewissen. «Noch heute habe ich Schuldgefühle, dass ich Syrien verlassen habe. Die Arbeit mit MSF ist ein gewisser Trost, aber manchmal sage ich mir, ich hätte meinem Volk besser gedient, wenn ich dort geblieben wäre, selbst wenn ich getötet worden wäre. Vielleicht hätte ich meine Pflicht besser erfüllt.
Mein Wunsch ist, dass die Krise so schnell wie möglich beigelegt wird und die Menschen nach Hause zurückkehren können.»
Ähnlich wie Muhammed Selim erging es auch anderen. Im Gesundheitszentrum, das Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) in den Flüchtlingslagern Kawargosk und Darashakran im Norden Iraks leitet, zählt die Organisation auf medizinische Fachleute, die als syrische Flüchtlinge in das Land kamen. In den beiden Lagern sind insgesamt neun syrische Ärzte und 15 syrische Pflegefachleute im Einsatz. Sowohl MSF als auch die Patienten profitieren enorm von der Arbeit von solchen Ärzten, sei dies im Irak oder auch in anderen Ländern.
Mehr als 225’000 syrische Flüchtlinge leben derzeit im Irak, die grosse Mehrheit von ihnen in der autonomen Region Kurdistan. In der Provinz Erbil, die rund 90'000 dieser Flüchtlinge beherbergt, hat MSF im September 2013 ein Projekt im Lager Kawargosk gestartet, ein weiteres im Lager Darashakran im März 2014. Dort bietet die Organisation medizinische Grundversorgung und psychische Betreuung an. Insgesamt wurden bereits mehr als 50'000 Sprechstunden abgehalten. MSF ist auch in der Provinz Dohuk tätig, wo weitere 100'000 Flüchtlinge untergekommen sind. Im Lager Domiz leistet die Organisation Grundversorgung, psychische Betreuung und Behandlungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit. Über 200'000 Untersuchungen wurden dort bereits durchgeführt. Im Zuge der gegenwärtigen Verschärfung des Irak-Konflikts strömen weitere vertriebene Menschen aus anderen Teilen Iraks nach Kurdistan, und die Bedürfnisse nehmen damit weiter zu. MSF ist mit mobilen Kliniken unterwegs und untersucht andere Möglichkeiten, um den vertriebenen Menschen zu helfen.

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