DR Kongo: Small Voices – Einblicke in die Realität der jüngsten Opfer in der konfliktgeplagten Provinz Ituri

Zwei Patienten erholen sich von chirurgischen Eingriffen, die von unseren Teams im Spital von Salama durchgeführt wurden. DR Kongo, Bunia, August 2023.

Demokratische Republik Kongo5 Min.

Die Provinz Ituri, im Osten der Demokratischen Republik Kongo, ist seit Jahrzehnten Schauplatz von Gewaltausbrüchen. Seit Mitte Februar kommt es wieder vermehrt zu Angriffen, die sich oftmals gegen die Zivilbevölkerung richten. Frauen und Kinder sind davon besonders betroffen. Als Reaktion auf den grossen chirurgischen Bedarf eröffnete Ärzte ohne Grenzen im Juni 2023 im Salama-Spital in Bunia ein chirurgisches Zentrum, das sich auf Traumatologie und postoperative Betreuung konzentriert. Von Juni bis Dezember 2023 behandelten die Teams von Ärzte ohne Grenzen insgesamt 863 Patient:innen – ein Drittel von ihnen waren Opfer von Gewalt. Soaade Messoudi, unsere Kommunikationsbeauftrage, schildert ihre Eindrücke von ihrem Projektbesuch im vergangenen August.

Wenn man das Salama-Spital in Bunia betritt, dann fällt sofort die geschäftige Betriebsamkeit auf: Draussen kochen die Familien der Patient:innen und spülen ihr Geschirr in grossen Plastikeimern; drinnen auf den Fluren ist viel los und jedes einzelne Zimmer belegt. Viele der Patient:innen haben sichtbare Verletzungen – bei einigen wurde an Armen, Schultern oder Beinen ein Fixateur externe angelegt, andere haben eingegipste Gliedmassen oder tragen Verbände.

Der Schwerpunkt unseres Zentrums im Salama-Spital ist die Traumatologie und Orthopädie, aber auch die Versorgung von Brand- und Unfallverletzungen wird angeboten – eine Entscheidung, die auf die zahlreichen Verletzungen dieser Art und die mangelnde spezialisierte medizinische Versorgung für diese Patient:innen in anderen Teilen der Provinz zurückzuführen ist.

Une technicienne de laboratoire MSF analyse des échantillons sanguins dans l'hôpital Salama

Labortechniker:innen analysieren Blutproben im Salama-Spital, um Krankheiten schnell zu diagnostizieren und lebensrettende Massnahmen einzuleiten.

© ©MSF/Michel Lunanga

Während ein Arzt uns das Spital zeigt, hören wir die anhaltenden und markerschütternden Schreie eines Kindes. Unfähig, das beunruhigende Geräusch zu ignorieren, schaue ich durch eine Tür und sehe einen kleinen Jungen von etwa fünf Jahren auf einem Bett unter einem Moskitonetz sitzen.

«Warum weint er?», frage ich. Eine Pflegefachkraft erklärt, dass der Junge starke Verbrennungen auf Beinen und Bauch von einem häuslichen Unfall davongetragen hat. Er möchte unbedingt aufstehen, um zu überprüfen, ob er noch richtig laufen kann. Seine Grossmutter, die neben ihm sitzt, hat aber nein gesagt. Sie befolgt die Anweisungen des Arztes, nach denen der Kleine im Bett bleiben soll – sitzend oder liegend und mit ausgestreckten Beinen. 

Schliesslich versichert der Arzt der Grossmutter, dass es dem Kind nicht schadet, wenn es seine Beine benutzt, und sie gibt nach. Also heben sie und die Pflegefachkraft den Jungen vorsichtig aus dem Bett. Mit vorsichtigen Schritten geht er langsam durch den Raum. Er sieht aus wie ein kleiner alter Mann. Die Erleichterung kann man ihm im Gesicht ablesen. Wir ermutigen ihn weiter und applaudieren. Seine Stimmung steigt sichtbar. Als wir uns winkend verabschieden, hat er ein Lächeln auf dem Gesicht.

Am Ende des Flurs treffen wir auf ein anderes Kind, die zweijährige Christelle. Sie liegt in den Armen ihrer Mutter und findet inmitten des Lärms und der Hektik des Spitals Trost. Christelle* und ihre Mutter Clarisse* kommen aus dem Dorf Drodro, in dem es jüngst zu Gewalt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen kam. Auf den ersten Blick scheint alles mit dem Kind zu stimmen. Doch dann erzählt die Mutter ihre schreckliche Geschichte.

Mein Kind fiel einer bewaffneten Gruppe zum Opfer, die mein Dorf angriff. Aus dem Nichts erschien eine Gruppe Männer auf dem Platz, wo ich mit meinen fünf Kindern und deren Grossmutter sass. Als ich realisierte, dass sie Waffen und Macheten dabei hatten, bekam ich Angst und holte panisch meine Kinder zu mir. Ich nahm meine älteste Tochter und eines meiner anderen Kinder an die Hand und rannte los, ohne zurückzuschauen.

Clarisse, die Mutter von Christelle* (2 Jahre alt), Opfer der Gewalt im Dorf Drodro.

Clarisse macht eine Pause und ringt um Luft. Sie vermeidet Augenkontakt und fährt sichtlich erschüttert fort: «Ich schaffte es bis ins Haus meiner Nachbarn, aber die Grossmutter meiner Kinder war nicht schnell genug. Die bewaffneten Männer packten sie und hackten ihr mit einer Machete den Arm ab. Christelle schrie vor Angst und wurde so auch Opfer der unbarmherzigen Männer, die versuchten, sie mit einer Machete zu töten.»

Christelle trug tiefe Schnittverletzungen an Rücken, Oberschenkeln und einem Arm davon. Ihre schwer verletzte Grossmutter konnte fliehen und sich im Busch verstecken.   

Portrait de Clarisse et de sa fille, Christelle. Hopital Salama, Ituri, RDC.

Porträt von Clarisse und ihrer 2-jährigen Tochter Christelle.

© MSF/Michel Lunanga

«Vom Fenster des Hauses aus konnte ich die bewaffneten Männer um die Häuser weiter die Strasse runter herumlaufen sehen», so Clarisse weiter. «Ich rannte schnell hinaus, um meine verletzte Tochter reinzuholen und ging dann los, um ihre Grossmutter zu suchen. Dann schlossen wir uns bis spät abends wieder im Haus ein. Als die bewaffneten Männer das Dorf verlassen hatten, suchten wir nach Hilfe und wurden von [der UN-Friedenstruppe] MONUSCO zur Gesundheitseinrichtung von Ärzte ohne Grenzen in Drodro gebracht. Von dort aus verlegte man uns sofort in ein Spital hier in Bunia.»

Ich sehe, wie sich die Kleine an ihre Mutter schmiegt und bin entsetzt über das, was sie erleben musste. Kein Kind sollte jemals etwas Derartiges durchmachen müssen. Und doch sind Frauen und Kinder die Hauptleidtragenden des Konflikts im Osten der Demokratischen Republik Kongo, wo es täglich zu Gewalttaten kommt.

Neben den vielen Menschenleben, die durch das Projekt von Ärzte ohne Grenzen gerettet werden können, bietet es eine gezielte und qualitativ hochwertige Versorgung, um das Ausmass der Behinderungen zu verringern, mit denen die Patient:innen ansonsten für den Rest ihres Lebens konfrontiert wären.

*Die Namen wurden geändert.