Welttag der psychischen Gesundheit: Auch seelische Verletzungen müssen behandelt werden

Journée mondiale de la santé mentale

6 Min.

Bei Konflikten und Naturkatastrophen behandeln die MSF-Teams auch psychische Leiden, so zum Beispiel in unseren Projekten auf den Philippinen oder in Haiti. Der Welttag der psychischen Gesundheit der dieses Jahr am Sonntag, dem 10. Oktober 2010 stattfindet, weist auf die Wichtigkeit von seelischem Wohlbefinden hin.

„Alles ging so schnell. Es war erschreckend!“ Ramon ist ein schüchterner junger Mann von der philippinischen Insel Mindanao. Wie hunderttausend andere ist auch er vor den Kämpfen zwischen den Moro-Rebellen und der Regierungsarmee geflohen. „Ich war mit meinem fünfjährigen Kind zuhause, als ich eine Bombenexplosion hörte. Ich hatte keine Zeit zu realisieren, was geschah. Ich erinnere mich, dass ich mein Kind praktisch aus dem Haus warf, bevor ich selbst hinaus rannte. Alle rannten. Manche Menschen sahen mich seltsam an. Dann fühlte ich mich schwach, mein ganzer Körper schmerzte, und ich musste mich hinlegen. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Man sagte mir später, ich hätte blutüberströmt dagelegen und man habe mich für tot gehalten. Ich wurde von zwei Granatsplittern im Bauch getroffen. Ich hatte Glück, denn jemand brachte mich zum Gesundheitsposten, wo man mich behandelte.“
Aber bei Ramon reichte die Versorgung seiner körperlichen Wunden nicht aus. Seine Verletzungen waren schon verheilt, und dennoch spürte er Schmerzen, gegen die alle Schmerzmittel wirkungslos waren. Da er von den mobilen Kliniken von MSF gehört hatte und seine Medikamente aufgebraucht waren, ging er zur Sprechstunde. Ihm wurde eine weitere Schachtel Paracetamol verschrieben. Ausserdem gab man ihm einen Termin bei einem Psychologen. Die Bombardierung seines Hauses hatte Ramon schwer traumatisiert und ihm psychische Beschwerden verursacht, die mit einer einfachen medikamentösen Behandlung nicht geheilt werden können.
Ramon gehört zu den 20 Prozent der Patienten, die mit unspezifischen Schmerzen in die Gesundheitszentren von MSF kommen. Egal, ob auf den Philippinen oder in anderen Ländern – das medizinische Personal der Hilfsorganisation hat gelernt, den körperlichen Ausdruck psychischer Leiden zu erkennen. Herzrasen, Schlaflosigkeit oder Schmerzen, die allein physiologisch nicht erklärt werden können, sind nämlich oft Symptome von psychischen Störungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen, Ängsten oder Depressionen. In Situationen, die von Gewalt, Zerstörung, Elend, Tod und Leid geprägt sind, also dort, wo auch MSF eingreift, treten oft auch psychische Krankheiten auf. Bei tausenden Menschen machen sie jedes normale Funktionieren im Alltag, mit ihrer Familie oder bei der Arbeit unmöglich.
Gesundheit wird nicht allein durch das Nichtvorhandensein von Krankheiten definiert, sondern durch psychisches und physisches Wohlbefinden. Für die meisten psychischen Leiden gibt es effiziente Behandlungsmöglichkeiten, und diese Patienten haben auch Anspruch darauf. Deswegen bemüht sich MSF seit 19 Jahren, die psychische Gesundheit in die medizinischen Programme aufzunehmen – egal, ob es um eine psychosoziale Unterstützung für Personen mit HIV/Aids in Mosambik oder Swasiland geht, um die Behandlung psychischer Erkrankungen von Opfern sexueller Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo oder in Guatemala oder um die psychologische Nothilfe nach einer Naturkatastrophe.
Arianna ist Psychologin. Sie kam zehn Tage nach dem Erdbeben vom 12. Januar nach Haiti, um die MSF-Teams zu verstärken. „Das Beben hat die Bevölkerung wirklich traumatisiert“, sagt sie. „Die Leute spüren die Erschütterungen weiterhin, auch wenn sie aufgehört haben. Ausserdem müssen sie sich mit der Trauer um ihre Angehörigen auseinandersetzen. Und sie machen sich natürlich auch Sorgen, wo sie Nahrung und ein Obdach für die Nacht finden können, ohne dass sie überfallen werden. Sie fürchten auch die nahende Regenzeit … Das alles ist einfach zu viel. So macht unser kleines Team jeden Morgen die Runde durch die Notspitäler, die von der Schweizer MSF-Sektion im Kindergarten Mickey und in einem Gymnasium in Port-au-Prince eingerichtet wurden. Wir versuchen, mit jedem Patienten ein Gespräch zu führen, damit sie erzählen können, was ihnen zugestossen ist und in welcher Situation sie sich gerade befinden. So versuchen wir, auf ihre Ängste einzugehen. Wir erklären ihnen, dass ihre Reaktion auf ein solches Ereignis vollkommen normal ist. Anormal war nur das Ereignis. Wir erklären ihnen auch, dass es sein kann, dass sie in den kommenden Wochen unter Alpträumen, Appetitlosigkeit, Ängsten oder physischen Schmerzen leiden werden, und dass in diesem Fall zu uns kommen sollen.“
Auf die psychologischen Einzelbehandlungen, die Arianna und ihr Team wenige Tage nach dem Erdbeben durchführten, werden etwas später Gruppentherapien folgen; aber erst wenn die Notphase vorüber ist und die Menschen wieder beginnen, in einen Alltag zu finden. Wenn sie ihre Gefühle, ihre Probleme und Hoffnungen mit anderen Menschen teilen können, die Ähnliches erlebt haben, fällt es den Teilnehmern der Gruppe leichter, Abstand zu den traumatischen Erlebnissen zu gewinnen. Durch Austausch und gegenseitige Unterstützung können sie ihre Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft leichter wieder aufnehmen.

Berücksichtigung lokaler Kulturvorstellungen
MSF achtet bei psychischen Problemen stets auf die kulturellen Eigenheiten des jeweiligen Landes. Deswegen bestehen die Teams immer sowohl aus internationalen als auch aus lokalen Mitarbeitern, die bereits Erfahrung auf dem Gebiet der psychologischen Betreuung haben. Sie spielen bei der Behandlung von Patienten eine grosse Rolle, nicht nur als Übersetzer, sondern auch hinsichtlich des kulturellen Verständnisses psychischer Störungen. Was nämlich in der einen Gesellschaft anormal ist, ist es nicht unbedingt in einer anderen. Vor jedem Einsatz muss das Thema psychische Gesundheit also innerhalb der betroffenen Gemeinde erfasst und die Behandlungsart an die kulturellen Bedingungen vor Ort angepasst werden.
In den meisten südlichen Ländern gibt es keine Einrichtungen für die Diagnose und Behandlung von psychischen Störungen. Wenn MSF eine psychologische Sprechstunde eröffnet, ist der Ansturm auf das Team für die psychische Gesundheit meist gross. Zuerst kommen oft Patienten, die unter schweren Störungen wie Psychosen oder Depressionen leiden. Auch Epilepsie ist nicht selten, eine besonders auffällige Krankheit, die häufig zu Ausschluss und Brandmarkung führt.
So ist es auch bei Bassan, einem kleinen, sechsjährigen Mädchen, das aus Somalia geflohen ist. „Als ich sie das erste Mal sah, war Bassan mit einer Leine angebunden“, berichtet Pablo, Psychiater bei MSF. „Sie war nicht zu bändigen und rannte immer weg, wenn sie konnte. Da sich niemand um sie kümmern wollte, wusste ihr Vater, wenn er weggehen musste, keine andere Lösung. Er wollte nicht, dass sie sich verletzt, indem sie zum Beispiel ihre Hand ins Feuer hält, oder dass Nachbarkinder Steine nach ihr werfen.“ Auf den Röntgenaufnahmen sieht man deutlich die geschädigten Gehirnareale. Die Gründe dafür sind unklar, vielleicht eine schlecht verlaufene Geburt oder eine unbehandelte Infektion. In einem Land mit einem funktionstüchtigen Gesundheitssystem hätte die Epilepsie von Bassan sicherlich vermieden werden können. Aber in Somalia herrscht seit 19 Jahren Krieg und weder Bassan noch ihre Mutter konnten jene medizinische Behandlung erhalten, die sie sicherlich beide nötig gehabt hätten. Die Erkrankung des Mädchens wird nun behandelt, ihr Zustand bessert sich langsam. Und ihr Vater muss sie nicht mehr anbinden.
Ramon geht es auch besser, auch wenn es nicht immer leicht ist. Er ist arbeitslos und lebt als Flüchtling in einem fremden Dorf. Also versucht er, sich eine Beschäftigung zu suchen, um das alles auszuhalten. Er kümmert sich um sein Kind oder trifft sich mit Freunden. Mit aller Kraft klammert er sich an die Perspektive eines glücklichen Lebens mit seiner Familie.
Täglich helfen die Psychologen von MSF hunderten Menschen dabei, ihr Leben zu meistern und im Alltag zu funktionieren. Diese Arbeit wird in den Krisensituationen, in denen die Hilfsorganisation eingreift, immer wichtiger.

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