Die Geschichte von Aziz, 10 Jahre alt

Une consultation à Zarkho en Irak.

4 Min.

Dalal ist der Name einer alten Steinbrücke in der Grenzstadt Zakho im Norden der Autonomen Region Kurdistan des Irak. Dalal ist aber auch der Name eines Ausflugsziels auf einem Hügel über dem Fluss, wo die Leute Hochzeiten feiern und die Kinder die Aussicht von einem Riesenrad geniessen.

Dalal bedeutet schön, einzigartig. Dank der Grosszügigkeit des Eigentümers steht das Gelände nun voller Zelte, und da und dort sind Latrinen und Wasserstellen zu sehen. Noch nie waren so viele Menschen an diesem Ort wie seit letztem Monat, als über 5‘000 Menschen aus der Stadt Sindschar hierher geflohen sind. Médecins Sans Frontières/ Ärzte ohne Grenzen (MSF) betreibt hier eine mobile Klinik, wo allgemeinmedizinische Versorgung und psychologische Betreuung angeboten wird.
Der zehnjährige Aziz ist in die MSF-Klinik gekommen, die im vorigen Monat eingerichtet wurde, um zum letzten Mal mit der MSF-Psychologin Dr. Shirine zu sprechen. Der Junge trägt ein ausgebleichtes orangenes Real-Madrid-Trikot mit dem Namen Ronaldo auf dem Rücken und reibt sich die Hände, während er verlegen erzählt: «Eines Tages kamen Leute von MSF zu unserem Zelt und erklärten, was sie in der Lagerklinik anbieten. Sie sagten meiner Mutter, dass da auch eine Psychologin wäre.»
Aziz hatte Probleme mit nächtlichem Harnlassen und Alpträumen, so dass seine Mutter ihn mit der grossen Schwester zur MSF-Klinik schickte. Ein Arzt verschrieb Antibiotika gegen die Harnwegentzündung und überwies ihn an die Psychologin, die derzeit das Team im Lager unterstützt.
«Es gibt so viele Menschen hier mit Traumata», fasst Dr. Shirine zusammen, «sie haben viel durchmachen müssen. Einige haben auch Mühe, sich an die Bedingungen im Lager zu gewöhnen und leiden unter Depressionen». MSF bietet psychologische Beratung in Einzel- und Gruppensitzungen an. «Wir bitten die Patienten einfach, von ihren Gefühlen zu erzählen und uns zu schildern, was sie Schlimmes erlebt haben», erklärt sie.
Aziz ist eigentlich ein mutiger Junge, aber nicht immer. «Am meisten Angst habe ich vor den Alpträumen», gesteht er. Er erinnert sich noch genau, wie die Kämpfe ausbrachen und die IS-Milizen immer näher rückten. «Am Tag bevor wir flohen, wurde die ganze Nacht gekämpft. Ich war zuhause mit meinen kleinen Brüdern und passte auf sie auf, während sie schliefen. Ich hatte keine Angst. Als die Gefechte dann näher kamen, weckte ich sie und nahm sie mit an einen sichereren Ort. Ich habe es sogar geschafft, sie wieder zum Schlafen zu bringen», erzählt er stolz. «Am Morgen dann zogen sich die Peschmerga zurück, und wir sind in die Berge geflohen.»
«In den Bergen war es hart», berichtet er. «Wir mussten weite Distanzen zu Fuss gehen, und einige von uns hatten keine Schuhe. Ich trug Plastiksandalen. Wir gingen vier Stunden bergauf, aber das Schlimmste war der Abstieg. Es war sehr rutschig, und die Kleinen waren viel zu müde. Ich trug meine fünfjährige Schwester auf dem Rücken», erzählt er stolz und fügt grinsend hinzu: «Sie war so schwer, aber sie wollte einfach nicht mehr laufen, und so musste jemand sie tragen. Dann stolperte meine Mutter und stürzte. Wir mussten eine Weile warten, und dann wurde sie von einem meiner Onkel getragen». Die Mutter von Aziz war im dritten Monat schwanger. Als sie endlich am Fuss des Berges anlangten, wurde sie von PKK-Soldaten ins Spital von Qamischli gefahren. «Ihr geht es wieder gut, aber sie hat das Baby verloren.»
«Ich mache mir Sorgen um sie, ich habe Angst, dass ich meine Eltern verliere. Mit Dr. Shirine zu reden, war eine gute Idee. Sie hat mir sehr geholfen. Jetzt bleibt meine Matratze trocken und ich habe keine Alpträume mehr. Ich habe Medikamente gekriegt, und sie hat gesagt, ich soll in der Nacht einfach nicht zu viel nachdenken. Jetzt mache ich vor dem Schlafengehen noch mal Pipi und dann denke ich an nichts.»
Dr. Shirine ist Psychologin, sie stammt aus Dohuk. «So etwas kommt häufig vor: Die meisten Kinder leiden unter Angstzuständen und Alpträumen. Dieser Junge hatte das Problem schon früher. Er träumte davon, zu ersticken oder zu ertrinken. Die Flucht aus Sindschar und der heikle Gesundheitszustand seiner Mutter haben seinen Zustand verschlimmert». Dr. Shirine führte drei Einzelsitzungen mit Aziz durch. «Ich habe auch mit der Familie gesprochen, weil sie über die Probleme Bescheid wissen müssen und die Kinder unterstützen sollen. Ich bat seine Eltern, sanft mit ihm umzugehen und vor dem Schlafengehen viel Zeit mit ihm zu verbringen.»
«Ich habe viele Freunde im Lager», erzählt Aziz. «Alle kennen mich, und wir spielen Fussball zusammen. Ich spiele ganz gut, meist im Tor», prahlt er. «Einigen meiner Freunde könnte ein Besuch beim Psychologen auch gut tun. Mein Cousin ist in meinem Alter und hat dieselben Probleme wie ich. Ich habe ihm gesagt, er soll doch mal mitkommen», erzählt er. «Aber er hört nicht auf mich. Vielleicht ist er zu schüchtern, oder vielleicht drängt ihn seine Mutter nicht so sehr dazu wie mich meine.»
Trotz des anhaltenden Konflikts im Irak, der die Arbeit der humanitären Organisationen vor Ort stark erschwert, bemüht sich MSF, den Irakern, sowie syrischen Flüchtlingen im Irak, medizinische Hilfe zu leisten. Die Organisation ist seit 2006 im Land tätig. Sie akzeptiert keinerlei Mittel von Regierungen, religiösen Institutionen oder internationalen Gebern und finanziert ihre Projekte im Irak ausschliesslich aus privaten Spenden. Derzeit sind im Irak über 300 Mitarbeiter im Einsatz.

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