„Der Hilfseinsatz von MSF in Japan konzentriert sich insbesondere auf ältere Menschen“

Préfecture de Miyagi, Japon, 12.03.2011

5 Min.

Kurz nachdem das verheerende Erdbeben und die Tsunamis den Nordosten Japans verwüstet hatten, beteiligte sich MSF bereits am Nothilfeeinsatz.

Eric Ouannes, Geschäftsführer von MSF Japan, erklärt in einem Interview, wie die medizinische Nothilfeorganisation die japanische Bevölkerung unterstützt.

Können Sie kurz beschreiben, wie MSF auf das Beben reagiert hat?

Eric Ouannes: Ziemlich schnell. Zumindest haben wir versucht, sehr schnell zu reagieren. Wir haben gleich von Beginn an ein sehr kleines Team gebildet, um möglichst flexibel und mobil zu sein und auf neue Situationen schnell reagieren zu können; um uns rasch von einem Ort zum nächsten begeben zu können und um möglichst viele Distanzen und Evakuierungszentren abdecken zu können.

Können Sie ein paar Worte zur japanischen Reaktion auf das Erdbeben und die Tsunamis sagen?

Es war ein enormer Einsatz. Die Zahlen kennen wir nicht genau, aber es wurden zwischen 80’000 und 250’000 Menschen mobilisiert, hauptsächlich aus der japanischen Armee sowie aus anderen medizinischen Nothilfeorganisationen einschliesslich weiterer ausländischer Hilfsorganisationen oder Regierungsorganisationen.

Was sind die Hauptprobleme an den Orten, welche die Teams gesehen haben?

Derzeit sind in den 20 bis 30 verschiedenen Evakuierungszentren, die wir besucht haben, die chronischen Krankheiten der alten Menschen das Hauptproblem. Ihre Behandlung wurde unterbrochen, daher versuchen unsere Ärzte, diese wieder aufzunehmen, um einer akuten Lebensgefahr dieser Menschen vorzubeugen. Ein weiteres Problem sind die widersprüchlichen Informationen der letzten vier Tage. Dies wird zwar jetzt besser, stellt aber immer noch ein Problem dar. Transport ist ebenfalls schwierig. Die Strassen waren fast überall kaputt, wo wir hinfuhren, und Benzinmangel war auch ein Thema.
Die vom Erdbeben und den Tsunamis betroffenen Menschen haben viele Probleme auf einmal: die Kälte – das Wetter ist derzeit eher schlecht – sowie Nahrungs- und Wassermangel. Der dringendste Bedarf sind Decken, damit besonders verletzliche Menschen gegen die Kälte geschützt werden können.

Welche chronischen Krankheiten haben Sie hauptsächlich gesehen?

Die üblichen chronischen Krankheiten, die ältere Menschen haben: Bluthochdruck, Herz-, Kreislauferkrankungen und Diabetes. Wir versuchen wie gesagt, ihre Behandlung wieder aufzunehmen. Wir haben auch ein paar Fälle von Unterkühlung und Dehydrierung – zusätzlich zu den erwähnten Krankheiten – erlebt. Aber es handelt sich dabei um eine geringe Anzahl von Fällen angesichts der grossen Anzahl von Menschen, die vertrieben wurden oder ihr Zuhause verloren haben.

Plant MSF angesichts der Situation einen langfristigen Einsatz?

Das können wir noch nicht sagen. Im Moment überlegen wir, ob wir unser Einsatzteam erweitern sollen. Diese Entscheidung haben wir noch nicht getroffen. Wenn wir versuchen, unser Einsatzgebiet auszudehnen, werden wir ziemlich sicher ein Stück weiter in den Norden gehen müssen. Wir arbeiten aktuell im Norden der Provinz Miyagi und versuchen in die Provinz Iwate zu gelangen, um zu sehen, ob dort ein ähnlicher Bedarf an Hilfe existiert und es dort ähnliche Lücken wie in Miyagi gibt, die MSF füllen könnte. Die Struktur, die wir zu Beginn eingeführt haben – mit sehr flexiblen Teams auf die Bedürfnisse der Menschen zu reagieren – ist erfolgreich. Wir werden diese Strategie beibehalten, vielleicht mit mehr Teams grössere Bedürfnisse abdecken, aber es ist definitiv kein riesiger Hilfseinsatz mit hunderten internationalen Mitarbeitern aus der ganzen Welt. Im Augenblick sieht es absolut nicht danach aus.

Warum ist das so?

Es gibt grosse Hilfsanstrengungen der japanischen Regierung und von ausländischen Regierungen. Im Moment können wir nicht von einer humanitären Krise sprechen, weil die wichtigsten Bedürfnisse abgedeckt sind. Einige Spitäler in der Region funktionieren noch, ebenso die Überweisung von Patienten. Es gibt genügend Medikamente und in den meisten Spitälern sind Ärzte verfügbar.

Selbstverständlich gibt es einige Lücken, aber nichts, was angesichts des Ausmasses dieser Katastrophen ungewöhnlich wäre. Ich spreche bewusst von Katastrophen, weil mehrere Katastrophen passiert sind. Die Lücken, die durch diese Ausnahmesituation entstanden sind, versuchen wir zu füllen.

Was wird MSF tun, wenn es zu einem massgeblichen nuklearen Zwischenfall kommt oder wenn sich die Situation in Fukushima verschlimmert?

Dann werden wir unsere Teams evakuieren. Das ist ganz einfach. Heute beobachten wir die Situation stündlich. Unser Personal auf dem Gelände ist mit Radiometern (Strahlungsdetektoren) ausgerüstet. Wir prüfen die Situation mit verschiedenen Regierungs- und Nichtregierungsstellen und mit unterschiedlichen Institutionen weltweit, nicht nur mit Tokio. So bald wir ein Level erreicht haben, das wir als gefährlich für uns einstufen – das heisst, wenn die Situation gesundheitsbedrohlich oder gefährlich für unsere Teams wird – werden wir sie evakuieren. Wir verfügen über die Mittel, sehr schnell zu evakuieren und kennen die Evakuierungsrouten. Das ist es, was wir tun werden.

Wie sieht es mit der Behandlung von Erkrankungen aus, die durch Verstrahlung verursacht werden? Kann MSF dies in Erwägung ziehen?

Zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir sind auf diesem Gebiet keine Experten. Im Moment mobilisieren wir unser gesamtes Netzwerk in Bezug auf das Thema der nuklearen Verstrahlung. Einige unserer 25’000 bis 30’000 Mitarbeiter im Netzwerk von MSF haben in diesem medizinischen Bereich schon gearbeitet. Wir sammeln gerade deren Expertise, um herauszufinden, ob wir hier speziell reagieren können. Dies ist jedoch eher die Pflicht der japanischen Behörden, und soweit wir informiert sind, bereitet sich die Regierung gerade darauf vor.

Wird MSF einen Spendenaufruf für den Einsatz in Japan starten?

Wir wissen noch nicht, welches Ausmass dieser Einsatz in den nächsten Wochen und Monaten erreichen wird. Deshalb ist es zu früh, das zu sagen. Wir diskutieren diese Frage natürlich und sehen, dass viele internationale Organisationen, die nicht in Japan vor Ort sind, zu Spenden aufrufen. Im Moment ist es so, dass die Organisation über genug Geld verfügt, um den aktuellen Hilfseinsatz finanzieren zu können. Wir werden in den nächsten Tagen entscheiden, wie es weiter geht.

Verwandte Beiträge