Syrien: Medizinisches Personal in Ost-Ghuta am Ende seiner Kräfte

Ghouta orientale, 05.12.2016

Syrien5 Min.

MSF fordert einen sofortigen Waffenstillstand, damit kranke und verletzte Menschen in Ost-Ghuta weiterhin ärztlich versorgt werden können.

Ohne einen sofortigen Waffenstillstand wird es nicht länger möglich sein, Kranken und Verwundeten in der belagerten Stadt Ost-Ghuta zu helfen. Die Opferzahlen in dem Gebiet steigen drastisch, die Zahl der durch Bomben beschädigten oder zerstörten medizinischen Einrichtungen hoch. Wegen der Zerstörung und der Angst vor Bombenangriffen können die Strassen nicht mehr zum Transport von Patienten genutzt werden. Das medizinische Personal ist am Ende seiner Kräfte.
Die von MSF unterstützten Spitäler und Gesundheitszentren haben im Zeitraum zwischen dem 18. Februar und 4. März über 4‘800 Verletzte und mehr als 1‘000 Tote gezählt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Zahlen weitaus höher liegen, denn immer weniger Einrichtungen sind imstande, noch Berichte zu verfassen und weiterzugeben. Ausserdem sind auch in Einrichtungen, die nicht von MSF unterstützt werden, Verletzte und Tote eingeliefert worden. Unter den Opfern sind viele Frauen und Kinder. In den neun von MSF unterstützten Einrichtungen, die Berichte erstellen konnten, lag am 23. Februar der Anteil von Frauen und Kindern unter den Verletzten bei 58 Prozent und bei den Todesfällen bei 48 Prozent.

Im gleichen Zeitraum wurden 13 medizinische Einrichtungen, die vollständig oder teilweise von MSF unterstützt werden, von Bomben oder Granaten getroffen. Das medizinische Personal in Ost-Ghuta, das bereits an die Belastungsgrenzen gegangen war, arbeitet nun seit sechs Tagen ohne Pause und ohne Hoffnung, unter den extremen Umständen Patienten angemessen behandeln zu können. In den unterstützten Einrichtungen sind keine Mitarbeiter von MSF anwesend.

Wenn Ärzte und Pflegekräfte am Ende sind, ist auch die Menschlichkeit am Ende

Meinie Nicolai, MSF-Geschäftsführerin in Belgien

«Ich habe als Pflegefachfrau in schlimmen Konflikten gearbeitet. Doch es erschüttert mich zutiefst, wenn ich höre, dass das medizinische Personal in Ost-Ghuta 100 Verletzte hat, aber kein Spital, weil dieses durch Bomben zerstört worden ist», sagt Meinie Nicolai, MSF-Geschäftsführerin in Belgien. «Wenn man rund um die Uhr arbeitet, keine Zeit zum Schlafen findet, keine Zeit zum Essen hat, ständig von Bomben umgeben ist und sich einfach inmitten absoluter Not befindet, kommt irgendwann ein Zustand der Verzweiflung und Erschöpfung. Das Adrenalin lässt einen eine bestimmte Zeit funktionieren. Doch wenn Ärzte und Pflegekräfte am Ende sind, dann ist auch die Menschlichkeit am Ende. Wir dürfen das niemals zulassen.»

Am dritten Tag der militärischen Offensive forderten von MSF unterstützte Ärzte mehr medizinisches Material. Jetzt, nach sechs Tagen unaufhörlichen Bombardements, sagen sie, dass sie selbst mit neuen Lieferungen keine physischen Ressourcen mehr haben, um die Verwundeten weiter behandeln zu können. Sie verlangen daher ein Ende der Bombardements.
Während der Krieg in Syrien an Intensität zugenommen hat, sind die häufigen Aufrufe von MSF und anderen, das Internationale Humanitäre Recht (IHL) und die Regeln des Krieges einzuhalten, auf taube Ohren gestossen. Wir rufen weiter dazu auf und fordern nun zudem: Damit die Mediziner ihre Arbeit machen können, müssen die Bombardierungen durch die syrische Regierung und die bewaffneten Oppositionsgruppen in Ost-Ghuta sofort gestoppt werden. Wir rufen jeden Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen, der militärisch in Syrien involviert ist oder Kriegsparteien unterstützt, dazu auf, seine Mitschuld an der sich abzeichnenden medizinischen Katastrophe anzuerkennen und dringend seinen Einfluss geltend zu machen, um diese Krise zu entschärfen.

Eine humanitäre Intervention muss MSF zufolge Folgendes beinhalten:

  • Unterbrechung der Bombardierung und des Beschusses, um eine Neuorganisation der medizinischen Versorgung zu ermöglichen
  • Erlaubnis zur medizinischen Evakuierung der kritischsten Patienten
  • Erlaubnis für unabhängige humanitäre medizinische Organisationen, das Gebiet zu betreten und praktische Hilfe zu leisten
  • Massiver Nachschub von lebensrettenden Medikamenten und medizinischen Hilfsgütern 
  • Vor, während und nach jeder Kampfpause ist sicherzustellen, dass zivile Bereiche auf beiden Seiten, einschliesslich der medizinischen Einrichtungen, nicht getroffen werden

Aktivitäten von MSF in Syrien

Zu Beginn der jüngsten Eskalation in Ost-Ghuta unterstützte MSF zehn Gesundheitseinrichtungen mit regelmässigen Lieferungen und half immer mehr Einrichtungen, die vorher noch nie um Unterstützung gebeten hatten, mit medizinischen Notfallspenden. MSF spendete den meisten Spitälern und Kliniken aus den rasch schwindenden Beständen der Organisation. Einige grundlegende Hilfsmittel für Operationen konnten jedoch in Ost-Ghuta schlicht nicht besorgt werden. In den unterstützten Einrichtungen sind keine Mitarbeiter von MSF anwesend.

Im Norden Syriens betreibt MSF fünf Gesundheitseinrichtungen und drei mobile Kliniken und hat Partnerschaften mit fünf Einrichtungen. Aus der Ferne unterstützt die Organisation landesweit etwa 50 Gesundheitseinrichtungen in Regionen, in denen Mitarbeiter nicht direkt vor Ort sein können. Die Organisation ist nicht in Gebieten tätig, die vom Islamischen Staat kontrolliert werden, da es von dessen Führung keine Zusicherungen im Hinblick auf Sicherheit und Unparteilichkeit gegeben hat. MSF kann auch nicht in von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeiten, da diese der Organisation bislang den Zugang verwehrt. Um die Unabhängigkeit zu gewährleisten, nimmt MSF keinerlei staatliche Unterstützung für die Arbeit in Syrien an.