Zentralamerika und Mexiko : Medizinische Folgen der Gewalt

La plupart des victimes de violence se concentrent dans les quartiers pauvres et appartiennent à de groupes sociaux marginalisés.

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Von Dr. Gustavo Fernandez - Die Auswirkungen der Gewalt in Zentralamerika und Mexiko können nicht länger ignoriert werden: Die weitverbreitete Gewalt und ihre dramatischen medizinischen Konsequenzen für die Opfer drohen zu einer humanitären Krise auszuwachsen.

Das unterfinanzierte Gesundheitssystem, dem es ausserdem an medizinischem Fachpersonal fehlt, droht zusammenzubrechen. Fehlende Richtlinien, wie mit diesem Notfall umzugehen ist, führen dazu, dass vielen Gewaltopfern die dringend benötigte medizinische Pflege, die Unterstützung und der Schutz versagt bleiben. Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) lanciert heute eine Kommunikationskampagne, um dieses Thema in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken.
Guatemala, Honduras und Mexiko gehören zu den Ländern mit den höchsten Mordraten der Welt. Kriminalität und Gewalt sind in den letzten Jahren förmlich explodiert. Inmitten der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Instabilität hat sich die Zahl der Mordfälle in Honduras in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt, während das Gewaltvorkommen in den am meisten benachteiligten Quartiere von Guatemala Stadt mit dem in einem Kriegsgebiet vergleichbar ist – und an den jahrzehntelangen Bürgerkrieg erinnert. Jedes Jahr werden tausende sexuelle Übergriffe gemeldet, doch die Dunkelziffer liegt weit höher. In Mexiko werden jeden Tag durchschnittlich 50 Menschen getötet, 1’250 werden wegen gewaltbedingter Verletzungen medizinisch behandelt und mindestens 100 erleiden deswegen eine Behinderung.
Gewalt ist in dieser Region alltäglich geworden. So erstaunt es nicht, dass ganz normale Menschen in ständiger Angst vor Übergriffen, Vergewaltigung oder gar Mord leben. Tatsache aber ist, dass die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft am stärksten gefährdet sind: Die meisten Gewaltopfer leben in armen, benachteiligten Gegenden und gehören zu sozialen Randgruppen, was sie zusätzlichen Risiken aussetzt. Überdies werden die Opfer von Vergewaltigung, Prügelattacken und Schusswunden aufgrund ihrer Verletzungen häufig stigmatisiert und diskriminiert, weil man ihnen Verbindungen zu kriminellen Banden unterstellt.
In der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa stirbt alle 74 Minuten ein Mensch eines gewaltsamen Todes. In den vergangenen fünf Jahren hat sich im grössten Spital des Landes die Zahl der Einweisungen wegen gewaltbedingter Verletzungen mehr als verdoppelt. Das medizinische Personal von MSF arbeitet in den am meisten gefährdeten Gemeinden, wo es sich um verletzte und traumatisierte Opfer von Gewalt kümmert. In den 18 Monaten bis und mit September haben die Teams über 10‘000 Konsultationen direkt auf der Strasse in den gefährlichsten und ärmsten Quartieren durchgeführt. Patienten, die zusätzliche ärztliche oder psychologische Behandlung benötigten, wurden an öffentliche Gesundheits¬einrichtungen überwiesen, die von MSF unterstützt werden. Mehr als ein Viertel dieser Überweisungen waren auf Gewalttaten in den vorhergehenden sechs Monaten zurückzuführen.
Im benachbarten Guatemala konzentriert sich MSF auf die Betreuung von Opfern sexueller Gewalt. In den vergangenen vier Jahren haben die MSF-Teams nahezu 4'000 Vergewaltigungsopfer behandelt. Obschon es erwiesen ist, dass eine rasche medizinische und psychologische Behandlung die gesundheitlichen Schäden bei Vergewaltigungsopfern erheblich verringern kann, werden sexuelle Übergriffe in vielen Ländern noch immer in erster Linie als rechtliches Problem betrachtet. Bis vor kurzem war Guatemala in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Doch nun werden Schritte in die richtige Richtung unternommen: Die Regierung hat sich damit einverstanden erklärt, dass die Opfer sich medizinisch behandeln lassen können, bevor sie das Verbrechen anzeigen. Gleichzeitig stellen die Behörden den Opfern sexueller Gewalt in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen medizinische Versorgung zur Verfügung.
In den gewaltgeplagten Städten kommt jedoch das Gesundheitswesen mit der enormen Nachfrage nicht mit. Der Staat investiert eher in die Sicherheit und die Bekämpfung der Kriminalität – meistens zulasten des Gesundheitssektors. Dies führt regelmässig zu Engpässen bei medizinischem Material und bei Medikamenten, insbesondere in den lokalen Gesundheitszentren. Als Folge davon haben wir bei den Menschen eine Änderung der Verhaltensweise festgestellt: Viele suchen für einfache ärztliche Beratungen nicht mehr die lokalen Kliniken auf, sondern wenden sich vermehrt an private Apotheken – wenn sie es sich leisten können – oder an die bereits hoffnungslos überlasteten Notaufnahmen der öffentlichen Spitäler. Das gebeutelte Gesundheitswesen leidet ausserdem an einem akuten Mangel an medizinischen Fachkräften, da diese nur widerwillig in gefährlichen Gegenden arbeiten, wo sie selbst der Gewalt zum Opfer fallen könnten.
Die internationale Gemeinschaft – Regierungen, Zivilgesellschaften, internationale Agenturen für Zusammenarbeit, humanitäre Organisationen, Geldgeber – beginnt nur langsam, sich dieser Krise in Zentralamerika und Mexiko bewusst zu werden. Internationale Erklärungen und Finanzierungszusagen werden abgegeben, doch die geleistete Hilfe genügt bei Weitem nicht für die Bedürftigsten in der Region. Um auf die medizinischen Folgen der Gewalt angemessen zu reagieren, benötigt es als ersten Schritt dringend ein festes politisches Engagement.
Dr. Gustavo Fernandez ist Programmverantwortlicher für Guatemala und Honduras für MSF.
MSF ist eine unabhängige humanitäre Organisation, die in fast 70 Ländern medizinische Nothilfe leistet für Menschen, die unter bewaffneten Konflikten, Epidemien, Naturkatastrophen und fehlendem Zugang zur Gesundheitspflege leiden. MSF ist seit über 25 Jahren in Zentralamerika im Einsatz. Während dieser Zeit ist die Organisation den Opfern von Naturkatastrophen, Notsituationen und anderen medizinischen und humanitären Krisen beigestanden.

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