Taifun Haiyan: “Depressionen können genauso einschränken wie Blindheit”

La plupart de nos patients sont des enfants ou des personnes âgées.

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Während die akute Notfallphase nach dem Taifun Haiyan langsam abklingt, besteht die nächste Hürde für die Menschen auf den Philippinen darin, mit den psychischen Auswirkungen der Katastrophe fertig zu werden.

Aus Erfahrung weiss Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF), wie wichtig es ist, sich frühzeitig um diesen Aspekt der Hilfe zu kümmern, um Langzeitfolgen zu mindern. Zurzeit sind unter den 194 Mitarbeitern der Organisation vor Ort acht Psychologen. Die Psychologin Ana Maria Tijerino ist mit den Notfallteams von MSF auf der Insel Panay im Einsatz. Sie erzählt davon, wie viele Menschen Hilfe benötigen und wie unsere Unterstützung für sie aussieht.
Es ist erst der dritte Tag unserer medizinischen Aktivitäten hier auf Panay, aber wir haben schon so viele Leute gesehen, die unter enormer psychischer Belastung stehen. Besonders schlimm ist die Lage in den Dörfern, wo keine Zeit für Evakuierungen blieb. Die Menschen mussten den Sturm durchleben und die Zerstörung mit eigenen Augen ansehen. Eine solche Erfahrung psychisch unbeschadet zu überstehen, ist praktisch unmöglich.
Oft kommen die Leute zu uns und klagen über Kopf- und Rückenschmerzen oder Atemnot. Diese Symptome hängen häufig mit der Belastung zusammen, der sie ausgesetzt waren. Wir versuchen, diese Symptome zu „normalisieren“, indem wir den Patienten aufzeigen, dass sie ganz einfach normal reagieren - auf ein äusserst anormales Ereignis.

Ältere Menschen und Kinder am verletzlichsten

Bei den meisten unserer Patienten handelt es sich um ältere Menschen oder Kinder. Ältere Leute sind bei Notfällen generell sehr verletzlich: Häufig verfügen sie über kein grosses soziales Netz mehr, sind vielleicht verwitwet oder körperlich eingeschränkt. Evakuierungen sind für sie schwieriger, und sie wehren sich möglicherweise dagegen, weil sie ihr Zuhause beschützen wollen. Gleichzeitig werden sie bei Hilfeleistungen manchmal vernachlässigt, da sich diese zuerst an Kinder und Frauen im gebärfähigen Alter richten. Zudem lastet viel Druck auf ihnen: In ihrer Kultur sind sie die Familienoberhäupter. Auch wenn die persönlichen Erfahrungen der Katastrophe sie zu überwältigen drohen, müssen sie sich um ihre Familien kümmern.
Auch Kinder sind besonders schwer betroffen. Schulen wurden komplett zerstört und können kaum in absehbarer Zeit wieder eröffnet werden. Für die Kinder bedeutet dies, dass ein zentraler Teil ihres Alltags wegfällt, was jedoch für die Heilung enorm wichtig wäre. Ein gutes Zeichen ist, dass man einige Kinder im Dorf spielen sieht. Mitten in einer anhaltenden Krise zeigen diese Kinder eine hohe Resilienz. In unseren Gesundheitszentren beobachten wir jedoch sehr unterschiedliche Reaktionen auf den Taifun. Die Kinder haben Angst, können nicht schlafen und bei starken Regenfällen weinen viele von ihnen.
Heute traf ich ein 13-jähriges Mädchen, das nachts vor Angst nicht schlafen konnte. Jemand in der Nähe ihres Hauses war gestorben, und sie sagte, dass ein Geist ihren Körper und ihren Geist übernommen hätte.  Während des Taifuns war sie mit ihrer Familie für neun Stunden eingesperrt in ihrem Haus. Sie suchten vor einer Wand Schutz vor dem Wind und dem Regen. Wenn man mit ihr spricht, kann sie beschreiben, was sie in jenem Moment fühlte, doch das Erlebnis ist so einschneidend und überwältigend, dass sie auf eine übernatürliche Erklärung zurückgreift. Wir werden mit ihr und ihren Eltern arbeiten und sie mit einer Maltherapie dazu ermutigen, ihre emotionale Situation zu verarbeiten. Für Kinder werden wir generell spezielle Aktivitäten wie Gruppen anbieten, in denen sie zeichnen und spielen können. Zudem Sprechstunden zusammen mit den Eltern, in denen sie darüber reden können, was sie durchgemacht haben.

Isolierte Gebiete erreichen

Wir sind in isolierten Dörfern und auf abgelegenen Inseln tätig, und eine der grössten Herausforderungen besteht darin, möglichst viele Menschen zu erreichen. Wir werden in unseren mobilen Kliniken Behandlungen in Gruppen und für Einzelpersonen durchführen und auch Gesundheitsarbeiter auf Gemeindeebene sowie Lehrkräfte schulen. Ferner werden wir versuchen, akute Fälle ausfindig zu machen, die zusätzliche Behandlung erfordern.
Wir gehen davon aus, dass auch Selbsthilfegruppen ein geeignetes Mittel sind. Die Erwachsenen hier waren sehr empfänglich dafür, weil es ohnehin bereits Teil ihrer  Bewältigungsstrategie ist. Dadurch „reaktivieren“ wir einen natürlichen Mechanismus zur Verarbeitung: Wir ermutigen sie, miteinander zu reden und Lösungen zu finden, ihre Erfahrungen zu teilen. Das ist die beste Strategie: der Gemeinschaft helfen, sich selber zu helfen.

Starke Gemeinschaft

Der Gemeinschaftssinn ist bei den Philippinern sehr ausgeprägt und wird sicher wesentlich zur Verarbeitung beitragen. Sie leisten einander Hilfe, bieten Nachbarn Unterschlupf und Kleider, obwohl sie selbst alles verloren haben.
Die philippinische Bevölkerung ist sich an Naturkatastrophen gewöhnt. Einen Taifun von diesem Ausmass haben allerdings noch nicht viele erlebt. Die psychologische Unterstützung ist daher von grosser Bedeutung, denn Depressionen können genauso eine grosse Einschränkung darstellen wie zum Beispiel Blindheit. Angststörungen und Panikattacken behindern die Menschen in ihrem täglichen Leben stark. Dies sind Langzeitfolgen, denen wir vorbeugen möchten.

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