Myanmar - Nargis als Fenster auf eine tiefergreifendere Krise

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Vor genau einem Jahr rückte Myanmar international in den Brennpunkt, als der Zyklon Nargis das Land in weiten Teilen verwüstete. Der Wirbelsturm forderte 140’000 Tote und Vermisste und machte zahlreiche Menschen obdachlos. Kritische Stimmen verurteilten die verspätete und unzureichende Reaktion auf diese Tragödie. Die schwere Krise im staatlichen Gesundheitswesen wird jedoch weiterhin mit keinem Wort erwähnt. Infolge eines extremen Mangels an medizinischer Grundversorgung, der auf die passive Haltung der Regierung und die internationale Zurückhaltung beim Bereitstellen humanitärer Hilfeleistungen zurückzuführen ist, sterben in Myanmar jedoch jährlich Zehntausende an behandelbaren Krankheiten.

MSF wurde unmittelbar nach Nargis in der Krisenregion aktiv und versorgte innerhalb von nur 48 Stunden Überlebende mit Medikamenten, Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern. Doch gleich anderen Hilfsorganisationen wurden unsere Bemühungen in diesen ersten kritischen Tagen nach der Katastrophe behindert, da den ausländischen Rettungsspezialisten der Zugang zum betroffenen Deltagebiet verwehrt wurde. In der internationalen Gemeinschaft brach ein Sturm der Entrüstung los und es wurde mit einer hohen Anzahl weiterer Todesopfer gerechnet, falls eine sofortige gross angelegte Hilfsaktion nicht möglich würde. Die Konsternation war jedoch gross, als nach Abbau der Haupthindernisse drei Wochen später die dringendsten Bedürfnisse vieler Gemeinschaften wochenlang nicht befriedigt werden konnten. Selbst einen Monat nach dem Zyklon trafen die Teams von MSF auf stark betroffene Bevölkerungsteile, die sich von halbverdorbenem Reis ernährt und ohne angemessenen Schutz überlebt hatten, während in ihrer Nähe leblose Körper lagen oder im Wasser trieben.

Die folgenden Zählungen der Katastrophenopfer im Flussdelta entsprachen indes nicht der Höhe der ersten Schätzungen. Dennoch konnte eine aussergewöhnlich hohe Anzahl an Hilfsorganisationen im Krisengebiet tätig werden. Sie engagierten sich, die unmittelbaren und längerfristigen Bedürfnisse der weiterhin gefährdeten Bevölkerung zu erfüllen. Im krassen Kontrast dazu setzte sich die chronische Gesundheitskrise in weiten Teilen des Landes ungehindert fort. Jährlich sterben Tausende an Epidemien wie AIDS, Malaria und Tuberkulose, da Myanmar lediglich ein Mindestmass an offiziellen Hilfeleistungen erhält – 3 USD pro Kopf – und somit über eine geringe Anzahl an Hilfsorganisationen vor Ort ist. Dieser Mangel an Unterstützung ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Es ist kein leichtes Unterfangen, doch die Möglichkeit besteht weiterhin, in Myanmar die notwendige unabhängige Hilfe bereitzustellen, ohne den verantwortlichen Umgang mit Ressourcen zu beeinträchtigen. Leider scheinen die meisten Spenderregierungen eine politische Linie zu verfolgen, die ein Aufkünden des Engagements in diesem Land - einschliesslich lebensrettender Hilfsmassnahmen - beinhaltet. Wenn sich dies nicht ändert, wird die Zahl der Todesopfer auch lange Zeit nach Nargis weiter steigen.

Das Defizit an internationaler Unterstützung in Myanmar entbindet die Regierung des Landes nicht von ihrer Verantwortung, den Bedürfnissen ihres eigenen Volkes nachzukommen. Soweit MSF dies einschätzen konnte, war die Reaktion der Regierung auf Nargis langsam und unangemessen. Das staatliche Vorgehen im restlichen Teil des Landes ist jedoch noch ungenügender, da lediglich 0,3 % des BIP für den Gesundheitsbereich verwendet werden. Dies entspricht dem niedrigsten prozentualem Anteil weltweit. Gleichzeitig versäumt es der Staat, ausländische NGOs in einem adäquaten Umfeld willkommen zu heissen. Aufgrund des Zusammenspiels dieser Faktoren herrscht in Myanmar eine akute Gesundheitskrise. Myanmar ist in der Region das Land, das die niedrigste Lebenserwartung und die höchste Sterblichkeitsrate von Kleinkindern unter fünf Jahren (WHO) aufweist. Zudem grassieren Epidemien wie Malaria, AIDS und Tuberkulose (TB). Zwar kann Malaria auf relativ einfache Art behandelt werden, da es jedoch an fachlicher Diagnose und medikamentöser Versorgung mangelt, gehört die Erkrankung in Myanmar zu den häufigsten Todesursachen. Auch HIV/AIDS fordert hier jährlich Tausende Opfer, da der Bedarf an zugänglicher antiretroviraler Therapie (ART) extrem hoch ist. Rund 76’000 Menschen müssen dringend mit antiretroviralen Wirkstoffen behandelt werden. Heute erhalten lediglich 14’000 der Erkrankten diese notwendigen Medikamente, in erster Linie von MSF.

Wir haben uns sehr stark für eine schnelle massgebliche Vergrösserung des Vorrats an medikamentöser Behandlung eingesetzt. Das staatliche Gesundheitsprogramm ist jedoch weiterhin begrenzt und NGOs haben ihr Engagement hinsichtlich einer Versorgung mit antiretroviralen Wirkstoffen abgelehnt. Myanmar verzeichnet auch die höchste TB-Rate weltweit. Allein im Jahr 2007 meldete die Regierung an die 134’000 diagnostizierter TB-Fälle. Dem staatlichen Gesundheitsprogramm zur Bekämpfung von Tuberkulose fehlt es jedoch an finanziellen Mitteln, und im nicht regulierten Privatsektor herrschen noch schlimmere Zustände und ein höheres Preisniveau. Dies hat ein erhöhtes Therapieversagen und damit eine gesteigerte Resistenz gegen Medikamente zur Folge.

Der Globale Fonds (GF) zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria hat die Regierung aufgefordert, bis zum 1. Juni einen Vorschlag einzureichen. Bei dessen Annahme wird der GF neue Massnahmen zur Bekämpfung der Krankheiten bereitstellen. Die landesweiten Erfordernisse sind jedoch von so hohem Ausmass, dass schätzungsweise 80 % des zu deckenden Bedarfs weiterhin nicht befriedigt werden kann – dies entspricht Zehntausenden von vermeidbaren Todesopfern. Aus diesem Grund ist es von entscheidender Bedeutung, dass andere Spender, einschliesslich dem Three Disease Fund und dem Global Disease Fund (die beide HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose bekämpfen), die gewaltige Kluft zwischen den Hilfeleistungen und dem Ausmass anerkennen oder ihre Unterstützung zusagen.

Trotz der Verzögerung strömten schliesslich internationale Hilfsagenturen in das Flussdelta und stellten im Katastrophengebiet eine höhere Konzentration an Hilfeleistungen bereit, als sie irgendwo anders im Land anzutreffen wäre. Dieses offensichtliche Engagement ist für die Überlebenden von Nargis von wesentlicher Bedeutung, da viele unter ihnen auch in den kommenden Jahren gefährdet sein werden. Zehntausende Menschen im ganzen Land werden das Jahr nicht überleben, da sie keinen Zugang zu angemessener ärztlicher Behandlung erhalten. Dabei liegt es an erster Stelle im Verantwortungsbereich der Regierung von Myanmar, die Versorgung dieser Menschen sicherzustellen. Das Versagen der Regierung darf jedoch keine weiteren unterlassenen Handlungen zur Folge haben. Die Menschen in Myanmar können nicht länger warten, während ihnen die internationale Gemeinschaft mit Rücksicht auf eine Politik des Nicht-Engagements eine Grundversorgung vorenthält.

Jean-Sebastien Matte und Joe Belliveau, Programmverantwortlicher für Myanmar bei MSF Schweiz

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