Libyen: Eine medizinische Erkundungsfahrt von Misrata nach Tripolis

Environ 10 000 migrants principalement originaires du Niger, du Tchad et du Soudan, vivraient actuellement à Misrata.

Libyen6 Min.

MSF-Arzt Dr. Tankred Stöbe koordinierte im Januar 2017 eine medizinische Erkundungsfahrt durch Libyen. Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppierungen haben das Land gespalten. Die humanitäre Lage hat sich durch den Wiederausbruch des Bürgerkriegs und die instabile politische Lage seit Mitte 2014 weiter verschlechtert. Millionen Menschen in ganz Libyen sind betroffen, darunter viele Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten. In seinem Bericht erzählt Tankred Stöbe von seinen Begegnungen mit Menschen in oftmals verzweifelter Lage und davon, wie er die Situation in den unterschiedlichen Städten – von Misrata bis Tripolis – erlebt hat.

Misrata

Ismahil und Masjdi waren 19 Jahre alt und noch im Studium, als 2011 die Aufstände in Libyen ausbrachen. Wie viele andere griffen sie voller Idealismus und Leidenschaft, aber ohne Ausbildung oder militärische Erfahrung, zu den Waffen gegen die Regierung Gaddafi. Kennengelernt haben sich die beiden erst später auf Malta, nachdem sie in den Kämpfen nur knapp dem Tod entkommen waren. Masjdi verlor sein Augenlicht, Ismahil ist weitgehend gelähmt und kann nur noch seine rechte Hand bewegen. Ihre Begegnung auf der Intensivstation war der Beginn einer engen Freundschaft. Für weitere Rehabilitationsmaßnahmen wurden sie getrennt, doch sie hielten Kontakt und treffen sich jetzt so oft wie möglich in Misrata. «Wir sind wie Brüder», erzählten sie mir im Chor. Masjdi schiebt Ismahil’s Rollstuhl, und Ismahil liest seinem erblindeten Freund vor.

Misrata blickt auf eine lange Geschichte zurück. Die Stadt liegt strategisch günstig am Mittelmeer und ist seit jeher bekannt für ihren Stolz und ihre Unabhängigkeit, ihre Händler, Schmuggler und Piraten. Heftige Gefechte verwüsteten die Stadt zwischen Februar und Mai 2011 und heute ist Misrata eine staubige aber geschäftige Wüstenstadt. Wegen ihrer wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung sind die Spitäler gut ausgestattet und das Gesundheitssystem ist besser organisiert als im Osten. Im Vergleich zu Bengasi und Tripolis ist die Stadt derzeit recht sicher, weshalb wir beschlossen, hier unsere Basis zu errichten.

Jeden Tag sahen wir unzählige Menschen aus Subsahara-Afrika, die sich an den Kreuzungen mit ihren Erntegeräten, Bauwerkzeugen, Pinseln und Presslufthämmern aufstellten, um Arbeit als Tagelöhner zu finden. Nur wenige werden verhaftet, doch wenn sie an Polizeikontrollstellen gefasst werden, landen sie in einem der Internierungslager, bevor man sie in ihre Heimatländer zurückschickt. Geschätzt leben derzeit rund 10’000 Migranten allein in Misrata. Sie kommen hauptsächlich aus dem Niger, dem Tschad und dem Sudan. Immer in Angst davor, aufgegriffen und deportiert zu werden, suchen sie im Krankheitsfall meist nur eine Apotheke auf und kaufen, was ihnen dort empfohlen wird – auch wenn das meist eher ökonomischen als medizinischen Kriterien folgt. Bei ernsthaften Beschwerden gehen sie in private Praxen. Diese sind zwar teuer, aber anders als die öffentlichen Spitäler nicht gezwungen, Menschen ohne Papiere bei der Polizei zu melden. Bei chronischen Erkrankungen bleibt ihnen nur die Rückkehr nach Hause. Auf meine Frage, ob sie nicht vorhätten, mit dem Boot nach Europa überzusetzten, schüttelten sie resigniert den Kopf: Das sei viel zu gefährlich, sie wollten doch nicht im Meer ertrinken.

Zwischen Misrata und Tripolis

Es sind erschütternde Bedingungen, die im Gefangenenlager in einer Kleinstadt auf halbem Weg zwischen Misrata und der libyschen Hauptstadt Tripolis vorherrschen. Ausgelegt für 400 Flüchtlinge, waren gerade einmal 43 da, darunter 39 Frauen aus Ägypten, Guinea, dem Niger und Nigeria. Sie hatten seit einem Monat keinen Kontakt zur Aussenwelt oder zu ihren Familien. Die meisten von ihnen kamen aus Nigeria und erzählten mir, dass ihre Heimatorte zerbombt wurden. Die libysche Küstenwache hatte sie in einem kleinen Schlauchboot nahe der Mittelmeerküste abgefangen und in das Internierungslager gebracht.

Die kleinen Räume waren verschmutzt und mit Matratzen überfüllt. Als wir den Flur betraten, kam mir ein ätzender Gestank entgegen. Der Boden des Waschraumes war knöcheltief mit Kot und Urin bedeckt. Die Wasserhähne funktionierten nicht, Duschen gab es keine und ihre Notdurft mussten die Menschen in Eimern verrichten. Um sich zu waschen, benutzten sie ein bisschen von ihrem Trinkwasser. Die Frauen waren verzweifelt. Immer wieder flehten sie mich an, ihre Rückkehr in ihre Heimat zu erwirken. Meine Erklärung, ich sei Arzt und kein Botschafter, überzeugte sie nicht. Immerhin nahmen sie unser medizinisches Hilfsangebot an. Das Durchschnittsalter lag bei 22 Jahren und fast alle hatten gesundheitliche Beschwerden. Mehr als die Hälfte litt an infektiöser Haut-Krätze, wofür wir entsprechende Medikamente verabreichten. Viele klagten auch über allgemeine Schmerzen am ganzen Körper. Weitere unspezifische Schmerzen waren Ausdruck erlittener seelischer Traumata – zumindest liessen ihre Fluchtgeschichten und ihre augenscheinliche Verzweiflung das vermuten. Auf meine Frage, ob sie denn noch einmal versuchen würden, nach Europa zu gelangen, antworteten sie mit Entsetzen: «Niemals».

Sirte

Der Besuch in Sirte war eine erschreckende Erfahrung. Die Stadt liegt am Rande weiter Ölfelder und ist bekannt als Geburtsstätte von Muammar Gaddafi. Der sogenannte Islamische Staat (IS), der 300 Kilometer der Küstenlinie des Landes kontrollierte, erklärte Sirte im Frühjahr 2015 zu seiner Hochburg. Erst im vergangenen Dezember konnten Milizen aus Misrata die Stadt mit amerikanischer Luftunterstützung zurückerobern. In der sieben Monate dauernden Schlacht verloren unzählige Kämpfer ihr Leben, über 3’000 wurden verletzt. Zehn Rettungsfahrzeuge wurden beschädigt und drei Sanitäter getötet. Mit Sondergenehmigung und Polizeieskorte durften wir diese nun vollständig abgeriegelte Ruinenlandschaft betreten. Nichts war hier intakt geblieben, alles wurde zerstört. Eine gespenstische Stille hing über dem Ort.
Unser Ziel war das Ibn-Sina-Spital. Von den Bombeneinschlägen zwar weitgehend verschont, war das Spital jedoch geplündert und vor einem Jahr schliesslich aufgegeben worden. Einst war es eine moderne 350-Betten-Klinik mit verschiedenen Operationssälen, einer Intensivstation, einem Kernspintomographen, einem Herzkatheter-Labor und 20 neuen Dialysemaschinen. Noch war unklar, wann die Stadt und das Spital wieder zugänglich gemacht werden konnten, und ob eine Instandsetzung überhaupt möglich sein würde.*

Tripolis

Als wir Tripolis erreichten, war ich verblüfft vom Ausmass der Ruinen. MSF-Kollegen versorgten in der Hauptstadt Flüchtlinge in mehreren Internierungslagern.
Der Großteil jener Menschen, die auf der zentralen Mittelmeerroute nach Italien wollen, stammt aus Subsahara-Afrika: aus dem konfliktgeplagten Nigeria, dem autoritär geführten Eritrea oder dem Bürgerkriegsland Somalia. Die Menschen fliehen vor extremer Armut und Terror. Um die Mittelmeerküste zu erreichen, müssen sie den Tschad und den Niger durchqueren, beides von Armut geplagte Länder. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) taten dies im vergangenen Jahr über 300’000 Menschen. Es gibt jedoch keine genauen Zahlen darüber, wie viele von ihnen bereits auf der Reise sterben, sei es an Hunger, Durst oder durch einen Sturz von einem der überfüllten Lastwagen. Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens ebenso viele Flüchtende in der Wüste umkommen, wie im Mittelmeer ertrinken. Jedenfalls erzählen uns die Überlebenden, dass das Durchqueren der Wüste der bei weitem schwierigste Teil der Reise ist.
Auch die Leichen der Geflüchteten sind eine komplexe Herausforderung. Wir besuchten die Kühlhäuser der Kliniken, in denen sich nicht identifizierten Leichname türmen, die an den Stränden angeschwemmt wurden oder im Land selber verstarben. Viele waren bereits seit Monaten dort. Da es keinen Zugang zu DNA-Analysen gibt, können die Behörden die Toten nicht identifizieren und sie zurück in ihre Heimat und an ihre Angehörigen übergeben.

Dieser Bericht beruht auf persönlichen Erfahrungen von Dr. Tankred Stöbe im Januar 2017. Aufgrund der instabilen Verhältnisse kann sich die Lage vor Ort innerhalb kürzester Zeit ändern. Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) leistet seit Juli 2016 medizinische Hilfe für Flüchtlinge und Migranten in sieben Internierungslagern in Tripolis und Umgebung. Bis Januar 2017 wurden mehr als 5’500 Visiten durchgeführt. MSF lehnt die unbefristete, willkürliche Inhaftierung von Migranten, Flüchtenden und Asylsuchenden in Libyen ab.

* Nach dem Informationsstand vom 21. April 2017 soll das Ibn-Sina-Spital Ende April 2017 wieder eröffnet werden.